Grenzen und Ränder – eine kostbare Zusammenstellung unterschiedlicher, wissenschaftlicher Texte, die vor einiger Zeit im österreichischen Wieser-Verlag erschienen ist.
Die Herausgeber sind Maria Dippelreiter und ihr Gatte Michael Dippelreiter. Der nachfolgende Text ist nicht der Versuch, das Buch in Worte zu fassen. Vielmehr enthält er die Essenz dessen, was das Thema in mir auslöste.
Grenzen und Ränder – Worum geht es dabei?
Es geht um Ränder und Grenzen. „Ach, ne!“, sagen Sie jetzt vielleicht. Aber können Sie spontan sagen, was der Unterschied ist? Na? Was ist ein Rand und was eine Grenze? Genau darüber gibt das Buch Auskunft. 14 Autoren widmen sich dem Thema aus unterschiedlichen, (geistes-) wissenschaftlichen Blickwinkeln und führen den Leser durch Beispiele zu einer möglichen Begriffsbestimmung. Kann man diese Texte aus Sozialwissenschaft, Geisteswissenschaft oder Politik überhaupt als randfrei voneinander abgegrenzt betrachten? Sind ethische, philosophische oder soziologische Gesichtspunkte für sich genommen ausreichend, um eine Definition zu versuchen? Am Ende des Buches hat der Leser die Wahl.
Eine Grenze ist etwas Starres. Sie trennt zwei Teile voneinander. Als Beispiel liegt die Ländergrenze nahe. Sie trennt Deutschland von Österreich, Frankreich von Spanien oder Polen von Finnland.
Was meinen Sie?
Es gibt keine Grenze zwischen Polen und Finnland? Fein, dann habe ich jetzt Ihre volle Aufmerksamkeit.
Eine Grenze definiert immer einen klaren Zustand. Ja oder Nein, rein oder raus. Aber was ist ein Rand? Wie definiert man, wo der Rand endet oder beginnt? Und wie definiert man, was sich darin befindet? Nehmen wir als Beispiel einen Teller, der Vergleich liegt nahe. Sie kennen bestimmt die Redensart „Sie sieht nicht über ihren Tellerrand hinaus.“ Das Interessante an diesem Beispiel: Der Tellerrand ist gleichzeitig eine klare Grenze. Ein My zu viel, fällt es runter.
Was da fällt?
Es spielt keine Rolle, ist es drüber, fällt es runter. So wird der Rand zur Grenze. Spannend, nicht?
Kann denn dann die Grenze zum Rand werden? Eigentlich sollte man annehmen können, nein. Wie vorher schon gesagt, eine Grenze ist klar definiert. Zuweilen begibt es sich aber, dass die Definitionen des Menschen widersinnig sind. Oder besser: unzureichend. Nehmen wir als Beispiel die Flüchtlinge an der polnischen Grenze, und nun verzeihen Sie mir bitte, dass ich eingangs um Ihre Aufmerksamkeit bat. Diese Flüchtlinge befinden sich de facto in einem Rand. Sie sind nicht auf dem Staatsgebiet von Polen.
„Ha!“, werden Sie jetzt sagen, „genau! Sie sind ja noch auf dem Staatsgebiet von Belarus.“
Politisch mag das stimmen, nachdem Belarus sie aber nicht wiederhaben will, sind sie effektiv gestrandet. Und damit bilden sie einen Rand. Aus ihnen entsteht etwas Neues, Unerwartetes. Die Bewertung des Neuen will ich ganz bewusst nicht in den Vordergrund stellen. Vielmehr geht es darum, was ein Rand ist. Ränder sind üblicherweise fließend, ihre Grenzen nicht klar definiert. Nehmen wir als Beispiel einen Brennpunkt, ein Stadtgebiet der Probleme. Man sagt, der Bezirk XY ist ein Problemviertel. Damit bezieht sich die Definition einzig auf diesen Bezirk. Was in der Aussage enthalten ist: Die Übergänge zu den Nachbarvierteln werden klar umgrenzt abgeschnitten.
Diese Aussage ist also weder validierbar noch korrekt.
Nur weil Nachbar A nicht mehr in XY wohnt, sondern im angrenzenden Z, heißt das nicht, dass er keine Probleme macht oder dass er nicht Teil des Problemviertels ist. Lediglich politisch ist er das nicht mehr. So wird eine Grenze fließend. Genau darum geht es. Ein (politischer) Rand ist immer abseits der Masse, abseits des „Normalen“, abseits des Inneren. Es können Problemviertel sein, solche mit hoher Migrationsdichte (die nicht zwangsläufig Problemviertel sein müssen), es können auch solche sein, in denen überwiegend Menschen ethnischer Herkunft x wohnen, überwiegend christliche Menschen, buddhistische und so weiter. Ein (politischer) Rand bildet sich, wenn Gleiches zusammenkommt. Denn wenn das passiert, geschieht Ausgrenzung. Ganz automatisch. Dabei können Ränder gleichermaßen Chancen wie Gefahren bergen.
Denken wir an den Waldrand.
Wo beginnt der Wald? Mit dem ersten Baum? Mit einem Weg, der in den Wald hinein führt? Was würde der Bär dazu sagen, wenn er hungrig ist? Würde er sagen: „Mist, der Wald endet hier, das Reh kann ich nicht weiter verfolgen.“? Dann wäre der Bär politisch. Aber eigentlich denkt der Bär in diesem Moment nur mit seinem Magen, er würde das Reh weiter verfolgen, sähe er eine Chance, es zu kriegen. Daraus lernen wir, Bären pfeifen auf Politik.
Ein weiterer Rand, der eine nähere Betrachtung verdient, steckt in der häufigen Aussage: „Er/Sie treibt mich an den Rand des Wahnsinns.“ Der Rand des Wahnsinns, eine sehr interessante Konstellation von Wörtern. Wenn Wahnsinn einen Rand hat, impliziert das, dass der Zustand „Wahnsinnig sein“ fließend sein muss und nicht näher abgegrenzt werden kann. Tatsächlich findet sich in der modernen Medizin keine konkrete Abgrenzung des Zustandes. Wo ein Rand ist, kann keine klare Grenze existieren. Oder? Leider ist es nicht ganz so einfach, denken Sie an den Tellerrand. Er vereint Rand und Grenze. Einmalig?
Einstein sagte einmal: „Der Standpunkt eines jeden Einzelnen ist relativ.“
Was er damit meinte: Für den Senioren ist das 18-jährige Mädchen ein Mädchen. Für den 10-jährigen Bub ist sie eine Frau. Für die Mutter ist sie das Kind, Oma und Opa sind für sie alt. Es kommt immer auf den Standpunkt an. Das Universum beinhaltet Grenzen und Ränder. Die Grenzen dessen, was wir wissen und sehen können und die Ränder, die wir als solche definieren. Am Rande des Sonnensystems ist ein Beispiel der Widersprüchlichkeit der Definition. Ein Sonnensystem ist klar abgegrenzt, es beinhaltet eine gewisse Anzahl Sterne, Planeten und Monde. Es hat die Ausdehnung x und die Rotationsgeschwindigkeiten y. Wo kann da ein Rand sein? Gemeint sind die Randbereich, die äußeren Bereiche links und rechts, oben und unten der Grenze, die zu Randbereichen verschmelzen.
Aber widerspricht das nicht der Formel „Grenzen sind klar definiert“?
Früher dachten die Menschen, die Erde wäre eine Scheibe mit einem Rand, von dem sie runter fallen konnten. Dieser Glaube zeigt die damaligen Grenzen des Wissens. Heute glauben wir, alle Grenzen auf der Erde zu kennen. Und doch überraschen uns immer wieder kulturelle Ereignisse aus Rändern, die wir so noch nie zuvor betrachtet haben. Seien es die Rechte der Frauen, Rassismus in der Sprache oder Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung. Es sind Randgruppen, als die wir sie bezeichnet haben, und doch setzen sie neue Grenzen.
Doch wie entsteht ein Rand eigentlich?
Ist er gottgegeben? Nein, ein Rand entsteht durch Verbot, Unterdrückung und Ignoranz. Ein Rand umschließt die Ausgeschlossenen, die Andersartigen, die, von denen wir nichts wissen wollen oder dürfen. Ränder können Ghettos sein, wo die Gleichartigen sich zurückziehen, um unter Ihresgleichen zu sein. Ränder können auch links und rechts einer Staatsgrenze sein, wo Kultur und Sprache übergangslos fließend erscheinen. Ränder sind verwaschen, sie beinhalten keine klaren Linien oder Regeln.
Grenzen hingegen sind klar definiert in Form und Lage. Sie werden von Eltern aufgezeigt, von Politikern, von Polizisten oder Nachbarn. Grenzzäune signalisieren: bis hier und nicht weiter. Auch ein Herzinfarkt zeigt eine Grenze auf. Selbst der Tod zeigt uns Grenzen auf, wenn ein Angehöriger oder geliebter Freund stirbt.
Ist der Rand also nur ein Phantom, das wir der Grenze andichten?
Am Ende ist es eine Frage der Definition, und die, die liegt bei jedem Einzelnen. Somit trägt jeder Mensch die Verantwortung in sich, klar zu unterscheiden, wo es nicht mehr weitergeht (Grenze), wo Möglichkeiten bestehen (Rand) und was sich daraus machen lässt. Die Natur setzt Grenzen, der Mensch erschafft Ränder.
Link zum Buch: https://www.wieser-verlag.com/buecher/grenzen-und-raender/