Eine neue Kurzgeschichte zum Thema „Das Ende einer großen Liebe.“ Geschrieben schon vor etlichen Monaten, passt sie ganz hervorragend in die momentan orientierungslos scheinende Gesellschaft.
Doch Vorsicht: Der Titel ist Programm.
Mühsam geht der alte Mann den Gehweg entlang. Bei jedem Schritt umschließt seine rechte Hand feste den Stock, lässt wieder locker, umschließt. Fast als würde er bergauf gehen, wirkt es.
Doch der Weg verläuft gerade. Hier und da blickt er nach links, dann und wann nach rechts. Er wirkt eher teilnahmslos, in seinem Gesicht spiegelt sich keine Mimik wider. Ein kleines Mädchen überholt ihn rechts, sie fährt Rollschuh.
Der alte Mann runzelt die Stirn, dann schmunzelt er. Solche Rollschuhe hat er schon lange nicht mehr gesehen. Sie haben vier einzelne Rollen. Das gab es früher, denkt er. So wie es vieles früher gab. Zum Beispiel Liebe, Vertrauen oder Moral. Oder auch Glaube. Aber heute? Wer geht heute noch in die Kirche? Wer glaubt heute überhaupt noch an irgendwas? Außer an seinen Geldbeutel?
Die haben es nicht besser verdient, denkt er.
In der Ferne sieht er eine rot-weiße Absperrung den Gehweg blockieren. Bauarbeiter verbauen einen neuen Zugang ins Kanalisationssystem. Das hat es früher auch gegeben, denkt er. Aber ganz früher nicht, da war hier alles Ozean. Damals, als die Liebe noch frisch war. Voller Hoffnung, Wunder und Magie.
Er umgeht achtsam die Sperrung und betritt auf der anderen Seite den Gehweg. An einem Verteilerkasten hängt ein Plakat. Torsten Sträter on Tour! Bald auch in deiner Stadt!
Der alte Mann schüttelt den Kopf, geht weiter. Er denkt an die Romantik, Nacktbaden im wilden Fluss und Sonnenuntergänge am Lagerfeuer bei frisch gefangenem Fisch zum Abendrot.
Damals, denkt er, als alles noch eins war, gab es so vieles zu entdecken und so vieles zu tun. Es waren wilde Zeiten voller Aufbruchstimmung. Spannende Entwicklungen, berührende Szenen und verheißungsvolle Augenblicke.
Er fragt sich, ob er wohl blind geworden ist, über die Jahre. Oder taub. Deswegen bleibt er stehen, sieht sich um, lauscht, was der Wind zu seinen Ohren trägt. Geschrei, auf arabisch. Rechts aus dem Mietshaus. Im Garten pocht ein Teppichklopfer auf sein Recht, zu entstauben. Die Hand einer älteren Frau führt ihn schwungvoll ins Ziel. Auch das hat der alte Mann schon länger nicht mehr gesehen. Franklin, denkt er. Der Anfang vom Ende. Wäre er nicht gewesen, wer weiß, wo diese Welt heute stünde. Keine Autos, keine Kernwaffen, keine Drohnen.
Die jungen Leute würden nicht vor ihren Computern verblöden, sondern stattdessen draußen spielen, wie es alle Kinder tun sollten. Herumrennen, im Dreck buddeln, das Immunsystem stärken. Wieder schüttelt der alte Mann den Kopf. Ja, es war eine schöne Zeit, aber alles Schöne hat einmal ein Ende. Nun zeigt sich doch ein Ausdruck in seinem Gesicht. Verbitterung zerklüftet das sehr faltige Gesicht und überwuchert die tiefen Lachfalten.
Ein paar Jugendliche fahren auf Mopeds vorbei, lautstark übertüncht der Zweitakter jedes Geräusch. Blaue Wolken aus den Endrohren kommentieren die Klimakrise auf ihre Weise.
Franklin, denkt der alte Mann erneut. Ohne ihn hätte Otto* keinen Erfolg gehabt, wäre nichtmal auf die Idee gekommen. Alle anderen, Da Vinci, Van Gogh, Marco Polo brauchten keinen Strom, die existentiellen Entdeckungen geschahen alle vor Franklin. Er bleibt der Dreh- und Angelpunkt, der eine, große Fehler. Der Anfang vom Ende einer großen Liebe.
Während zwei Düsenjäger Kondensstreifen auf das Firmament malen, ist der alte Mann verschwunden.
(* Nicolaus August Otto gilt als Erfinder des Verbrennungsmotors. Benjamin Franklin als Entdecker der Elektrizität.)
Sehr schön! Regt wieder sehr zum Nachdenken an. Eben Denkmomente. Lösen auch Sehnsucht aus.
Vielen Dank, das freut mich.