Zwölf-Sieben – eine (kleine) Abenteuerreise

Zum Thema „Ein verlorener Gegenstand“ habe ich diese Geschichte umgewidmet, die ursprünglich zum Thema „Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer“ geschrieben wurde. Es handelt sich hierbei um eine Kurzgeschichte, deren Aufbau dem Erzählkonzept der klassischen Abenteuerreise nachempfunden ist.

Die Natur hält oft wundersame Dinge bereit. Der nordamerikanische Waldfrosch friert im Winter ein und taut im Frühjahr auf, ohne Schaden zu nehmen. Der Mauersegler verbringt fast sein gesamtes Leben in der Luft. Er frisst, schläft und paart sich dort sogar. Glauben Sie nicht? Es wird noch wundersamer. Die Jesusechse kann übers Wasser laufen, woher hat sie wohl ihren Namen? Der Pottwal besitzt eine eingebaute Schallkanone und betäubt seine Beute mit 200 Dezibel. Die Natur steckt voller Wunder und um ein ganz besonderes Geschöpf soll es im Folgenden gehen.

Luna erblickte das Licht der Welt in einem Genlabor in Zürich. Sie besaß vier gesunde Füße, einen kleinen Schwanz und einen Kopf. Ein niedliches, kleines Tier von der Art Europäische Sumpfschildkröte Emys orbicularis. Nur wenige Zentimeter groß. Intern trug sie die Bezeichnung GB-12/7. Sie war also das siebte Tier der Versuchsgruppe zwölf.

Das Schweizer Militär gab den Auftrag, die Sehfähigkeiten dieser Schildkrötenart weiter zu verbessern, denn was viele nicht wissen: Die Tiere können Ultraviolett- und Infrarotlicht erkennen. Die Verantwortlichen erhofften sich Schildkröten, die in der Lage wären, Lichtsensoren aller Arten im Kampfeinsatz zu detektieren und zu melden, ohne sie auszulösen. Geheime Sprengfallen, Zielgeräte, Lichtschranken und so weiter. Zu diesem Zweck sollten die Tiere Laute von sich geben, um die Soldaten zu warnen.

Die Forschergruppe fand das Projekt spannend und fragte sich, wie sie das anstellen könnten. Daher entschieden sie, ein paar Gene vom Graupapagei hinzuzufügen. Doch der Erfolg wollte und wollte sich nicht einstellen. Mal kam eine Schildkröte mit Federn zur Welt, mal eine gefederte Kröte ohne Schild, ein andermal ein flugunfähiger Schildgei. Doch eines Tages, in einer Vollmondnacht, schlüpfte das siebte Tier der Versuchsgruppe zwölf. Schon kurz nach dem finalen »Knack« hörte Anneli Steiner etwas, das ihre Nackenhaare zu Berge stehen ließ. »Mama!«

Als die verantwortliche Forscherin ihren Kopf drehte und den Ursprung der Stimme erkannte, glitt die Tasse Kaffee in ihrer Hand mit einem »Klirr« zu Boden.

Für alle Projektbeteiligten geschahen an diesem Tag gleich zwei Wunder. Zwölf-Sieben war scheinbar die perfekte Symbiose und gleichzeitig ein Novum: Kein bekanntes Lebewesen vermochte es von Geburt an, zu sprechen. Luna jedoch beherrschte bereits vier Worte. Hunger, Mama, Kuscheln, Aua. Sie entwickelte sich rasant, plapperte bald, stellte Fragen. Für Anneli eine moralische und emotionale Herausforderung: Wie sollte sie einer sprechenden Schildkröte erklären, woher sie gekommen war und warum? So versuchte sie Luna abzulenken, betonte Gemeinsamkeiten, zeigte Disneyfilme, installierte gar einen passenden Sitz für das stille Örtchen, damit sich Luna zugehörig fühlen konnte. Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen. Schildkröten legen ihre Eier in Gewässernähe unter Sand oder ähnlichen Gegebenheiten ab, weil die Geschlüpften immer dem gleichen Instinkt folgen: Ab ins Wasser.

So fand sich unsere kleine Heldin alsbald in der Kanalisation wieder, schwamm durch viele Flüsse bis ins offene Meer.

»Ui, ist das riesig hier, so viele Fische. Ach, wie schön, Amphibienlarven, langsam habe ich Hunger. Hm, lecker. Mal sehen, ob ich eine Anemone finde. Schwimmen, schwimmen, einfach schwimmen.«

Doch Luna fand keine Anemone und sie fand keinen Nemo. Sie fand keinen Marlin, keinen Crush und keinen Bruce. Alle Fische, Krebse und andere Meeresbewohner wollten rein gar nichts sagen. Still und stumm verweigerten sie jedes Gespräch. Und unsere kleine Heldin wurde immer trauriger. War etwa alles nur eine Lüge gewesen, was Mama gesagt hatte? War sie etwa ganz allein auf der Welt? Die Einzige ihrer Art? Noch wollte sie nicht aufgeben. Sie schwamm, suchte, fraß, schlief, suchte und fand doch niemanden, mit dem sie reden konnte. So verging die Zeit. Jahre später saß sie traurig und desillusioniert an einer Küste und blickte aufs offene Meer. Ein paar Tränchen kullerten ihre Wangen hinab. Mama, dachte sie. Wo bist du nur? Alle Hoffnung schien ihr die Freundschaft zu kündigen. Als sie gerade zurück ins Meer wollte, hörte sie Stimmen hinter sich. Sie drehte sich um, überlegte kurz und bellte ein paarmal.

Ein Junge kam heran und hob sie neugierig in die Luft. »Schau mal, Mama, eine Schildkröte. Darf ich die haben? Bitte, bitte!«

»Ach Jonathan, was du immer alles haben willst. Und wer kümmert sich dann um sie?«

»Bitte, Mama, ich werde auf sie aufpassen, versprochen!«

»Na, da bin ich mal gespannt. Weißt du eigentlich, was Schildkröten fressen?«

»Ich kann doch Alexa fragen, die weiß das bestimmt!«

»Meinetwegen, komm jetzt, wir wollen langsam zurück.«

Luna hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht, wollte aber vorläufig nichts sagen. Sie wollte ganz sicher gehen, dass sie auch wirklich mitgenommen wird. Endlich ist die Einsamkeit vorbei, dachte sie. Vielleicht wissen die beiden, wo meine Mama ist?

Die Fahrt führte an der Küste entlang und bald ins Landesinnere. Der kleine Jonathan betrachtete Luna immer wieder von allen Seiten, hob sie hoch, drehte sie und Luna konnte viele Blicke aus dem Fenster werfen. Sie staunte und staunte unentwegt, wie riesig alles war. Und sie bekam ein starkes Gefühl von Hoffnung. Wenn das alles so riesig ist, kann ich unmöglich die Einzige sein. Ich finde meine Mama und wenn nicht, finde ich andere, die so wie ich sind.

Bald hielt der Wagen an und die kleine Familie betrat ein Haus mit hübschem Vorgarten.

Jonathan ging sofort zum Echo Dot. »Alexa, was fressen Schildkröten?«

»Schildkröten ernähren sich meist pflanzlich. Es gibt einige Arten, die sowohl Pflanzen als auch kleine Lebewesen fressen. Dazu gehören Larven, Insekten und Schnecken. Allgemein sind Schildkröten nicht wählerisch und fressen, was sie finden.«

»Hier, gib ihr dieses Blatt Salat. Wir können morgen mal zum Fressnapf fahren, wenn du magst.«

»Au ja, das machen wir. Wie soll ich sie denn nennen?« Während Luna artig den Salat fraß, schaute sie sich vorsichtig um. Jonathan überlegte derweil, welchen Namen er ihr geben sollte. Seine Mutter begann in der Küche, das Abendessen vorzubereiten.

»Ach übrigens, Onkel Horst kommt nachher zum Essen«, rief die Mutter aus der Küche.

»Muss das sein? Der stinkt immer so!«

»Er ist krank, Jonathan. Wenn er bei uns ist, trinkt er wenigstens nicht und ich weiß, dass er was Vernünftiges zu essen bekommt. Wir müssen ihm helfen.«

»Warum fahren wir ihn nicht in eine Klinik? Vielleicht hört er auf, so zu stinken.«

»So funktioniert das eben nicht, er muss es wollen, sonst klappt das nicht. Sei nett zu ihm, hörst du?«

Der Junge blies die Backen auf. »Ok.«

Etwas später klingelt es, die Mutter lässt ihren Bruder herein und die drei setzen sich zum Essen. Luna kriecht derweil über den Teppichboden, erkundet ihre Umgebung und hört aufmerksam zu, was die Menschen reden. Nach dem Essen tragen Jonathan und seine Mutter das Geschirr in die Küche und machen den Abwasch. Horst steht unterdessen auf, geht zu Luna und setzt sich neugierig vor sie auf den Boden. Einen Moment betrachten sich die beiden, dann sagt sie: »Hallo.«

Es herrscht Totenstille. Horst glotzt sie an, mit offenem Mund. Er schüttelt den Kopf, sieht zu Luna. »Hast du was gesagt?«, fragt er und überlegt, ob Schnaps schlecht werden kann.

»Ich bin Luna und du bist Horst. Weißt du eigentlich, dass sich deine Schwester Sorgen macht? Warum gehst du nicht in die Klinik?« Sie lugt vorsichtig zur Küche und schon im nächsten Moment füllt ein markerschütternder Schrei das Wohnzimmer. Horst schnellt in die Höhe, rennt schreiend aus dem Haus, seine Schwester hinterher.

Jonathan begreift erst gar nicht, was passiert ist. Er blickt zu Luna, durch die offene Haustür, wieder zu Luna.

»Er rennt bestimmt in die Klinik«, sagt Luna, nicht ohne ein wenig Stolz in ihrer Stimme.

»Du kannst sprechen?« Jonathan staunt Bauklötze. »Wenn ich das Mama erzähle!«

»Du musst mir helfen, ich suche meine Mama. Kannst du mir helfen?« Luna erzählt dem Jungen, was passiert ist. Als er es hört, wird er traurig. Er hat eine sprechende Schildkröte gefunden und schon gehofft, sie könnte sein neuer, bester Freund werden. Jetzt soll er sie hergeben?

Als nach einiger Zeit Jonathans Mutter zurückkommt, bringt sie gute Nachrichten mit. Onkel Horst hat sich für einen Entzug einweisen lassen. Er ist nun endlich bereit, sein Leben in die Hand zu nehmen und die Vergangenheit zu überwinden. Als sie Luna sprechen hört, traut sie ihren Ohren nicht. Doch sie spürt bald, was zu tun ist. Beide überzeugen Jonathan und machen sich am nächsten Tag früh morgens auf den Weg von Warnemünde nach Zürich.

Dank Luna wussten sie den Namen von Anneli Steiner, riefen sie an und trafen sich spät nachmittags in einem Park. Die folgende Szene war herzergreifend.

»Mama!«, ruft Luna und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

»Luna, Gott, wo bist du die Jahre gewesen? Meine kleine Luna, komm her, komm her, komm her!« Dankbar drückt sie das Tier an sich.

Jonathan und seine Mutter stehen daneben, Arm in Arm, mit feuchten Augen. Nach etwa zwei Stunden ist alles erzählt und die beiden versprechen, niemandem etwas zu verraten. Anneli schwört, Luna wird niemals wieder das Labor von innen sehen. Das Forschungsprogramm ist aufgrund Geldmangels ohnehin schon lange eingestampft. Und das Militär hat den verlorenen Gegenstand längst abgeschrieben.

»Ich werde dir mein Zuhause zeigen, Luna. Es wird dir gefallen. Dort kannst du ungestört leben.«

»Das ist gut, Mama, hoffentlich ist es dort ruhig, damit keiner hört, wie ich dich schimpfe.«

Anneli senkt den Kopf, kurz darauf seufzt sie und sagt: »Ich habe dir wohl einiges zu erklären. Lass und nach Hause gehen.«

»Keine Sorge, Dude«, sagt Luna zwinkernd. »Wir schaukeln das.«

Ein paar Wochen später

An der Küste von Warnemünde, wenn der Wind ein Päuschen einlegt, meinen Touristen seit einiger Zeit, etwas zu hören. Babyschildkröten schwimmen vorbei und fast scheint es, als würde das Wasser singen.

»Schwimmen, schwimmen, einfach schwimmen.«

The End–

Schildkröte. Quelle: Disney. zwölf-sieben
Quelle: Disney/Pixar.

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