Das vergessene Leid der Mary Spencer

Eine Kurzgeschichte zum Thema „Wie die Hexe aus Hänsel und Gretel so wurde.“ Ein fiktives Drama, das aufzeigen und erinnern soll, dass jeder Täter einmal Opfer war.

»Die Hütte im Wald war gar nicht der Anfang des Dramas. Das begann viel früher. Die schicksalhaften frühen Jahre der Mary Spencer entschieden über ihren Werdegang. Wenn ein Kind, ein instabiles, empfindliches Wesen, noch dazu ein Mädchen, von seinem eigenen Vater nicht nur geliebt wird, sondern er sie durch seine Taten sogar von sich wegstößt, wenn er sie also in gewisser Hinsicht zu sehr liebt oder versucht, sie zu sehr zu lieben und sie, natürlich ohne jede Chance, seine Liebe zu verstehen, sich instinktiv dagegen verwehrt; ja, ihn geradezu von sich weist, obwohl er ja genau das Gegenteil zu erreichen versucht, wenn jene schicksalhafte Konstellation in wohliger Dynamik einem Perpetuum Mobile gleich unaufhaltbar in eine Richtung steuert und kein Mensch, kein Fabelwesen, kein Ortsvorsteher und kein Vikar weder davon Wind bekommen noch ein Vöglein es ihnen zwitschert, dann, vielleicht, kann man die Taten der Mary Spencer verstehen, sie nachvollziehen, zumindest.«

»Ihr spielt auf die Narben an?«

»Gewiss. Es gab Gerüchte, schon sehr früh. Doch ein Sir von hohem Haus? Wer hätte insistieren sollen? Ihr, werter Vikar? Wohl kaum.«
»Er war ein edler Spender, gern gesehener Gast im Hause des Herrn, wie hätte ich?«

»Exakt. Daher ist es so wichtig, den Blick in die Vergangenheit zu lenken und die kleine Mary zu betrachten.«

»Wo wollt Ihr beginnen, Inspektor?«

»Bei der Aussage des Bediensteten Chambers. Er gab zu Protokoll, Mary oft ins Schlafgemach ihres Vaters gehen gesehen zu haben, wenn die Mutter in der Kirche weilte. Er gab ferner an, oft Nein! und Nicht, lass das! gehört zu haben. Du tust mir weh! war ebenso darunter wie Bitte, Vater!.«

»Was schließt Ihr daraus?«

»Im Moment noch gar nichts. Ich versuche die Hinweise zu ordnen. Welchen Eindruck machte Madame Spencer auf Euch?«

»Sie wirkte stets fromm, kniete beim Gebet, den Kopf gesenkt.«

»Also eine fromme Dienerin des Herrn?«

»So könnte man sagen. Ich würde annehmen, sie ahnte nichts.«

»Doch was hat die kleine Mary bewogen, sich ihrer Mutter nicht anzuvertrauen, vorausgesetzt, es war das, was wir befürchten?«

»Hm, möglicherweise hat der Sir ihr gedroht?«

»Womit könnte er ihr gedroht haben?«

»Inspektor, Ihr seht mich ratlos. Wo immer man die drei sah, wirkten sie glücklich.«

»Wie eine Bilderbuchfamilie. Hm, also, was wissen wir? Mary wird mit 12 in ein Internat geschickt. Was danach geschieht, ist unbekannt. Offiziell kehrt sie nie wieder nach Southampton zurück. Sir und Madame Spencer sterben 20 Jahre später bei einer Feuersbrunst in ihren eigenen Betten. Kurz darauf kursieren Gerüchte über ein Hexenhaus im Wald, das sich jedoch als Jagdhütte herausstellt. Das Interesse der Menschen verebbt und damit die Gerüchte. Letzte Woche, weitere 20 Jahre später, werden John und Margaret als vermisst gemeldet. Ein Suchtrupp findet sie schließlich in eben jener Jagdhütte, die zu der Zeit, kurz vor Weihnachten, mit selbstgemachten Lebkuchen verkleidet vorgefunden wurde.«

»Als wäre das nicht schon genug Frevel vor dem Herrn!«

»Geduld, werter Vikar, Geduld. Gewiss habt Ihr recht, doch lasst mich zuvor noch den aktuellen Kenntnisstand zu Ende ausführen. Die beiden Kinder sind in einem Käfig gefangen, die vermeintliche Hexe wehrt sich mit Mistgabel und wilden Flüchen, sodass sie versehentlich im Feuer ihres eigenen Ofens landet, aus dem sie kurz danach befreit wird. Leider zu spät, um ihr Leben zu retten, doch früh genug, um sie als Mary Spencer zu identifizieren.«

»Gott sei ihrer Seele gnädig.«

»Das führt mich zu den Narben, über die wir eingangs sprachen.«

»Die Kleidung war größtenteils verbrannt, doch Jakob, der Schuster, und die anderen schwören Stein auf Bein, sie hatte zwischen den Schenkeln dicke Narben. Genau links und rechts von …«

»Ich verstehe, Vikar. Also Ruten sind wohl ausgeschlossen, nicht einmal der Teufel selbst würde eine Frau, ein Mädchen, an diesen Stellen auspeitschen. Woher könnten sie sonst stammen?«

»Ihr seht mich erneut ratlos, Inspektor. Könnten sie vom Reiten stammen? Die groben Nahtstellen des Sattels …«

»Ausgeschlossen. Menschen von diesem Stande benutzen Decken, es muss etwas anderes gewesen sein. Etwas viel … Schmerzhafteres.«

»Also verstehe ich es richtig, aufgrund der Narben verdächtigt Ihr Sir Spencer?«

»Nun, das in Verbindung mit der Aussage des Bediensteten Chambers, Marys plötzlicher Abreise ins Internat und der überraschenden Feuersbrunst vor 20 Jahren. Ist Euch noch etwas eingefallen?«

»Nein, Sir. Es ist mir ein Rätsel.«

»Was ist Euch ein Rätsel?«

»Na, woher die Narben stammen.«

»Wenn sich Sir Spencer an seiner Tochter vergangen hätte, hätte die Mutter nicht etwas merken müssen? So gelange ich wieder zur Frage, warum hat sich die kleine Mary nicht ihrer Mutter anvertraut?«

»Äußerst rätselhaft, in der Tat.«

»Na gut, ich wollte es vermeiden, doch nun habe ich keine Wahl. Ich muss Euch etwas fragen, Vikar, und ich erwarte Aufrichtigkeit, nach all den Jahren, die wir uns nun kennen.«

»So habt Ihr ja noch nie mit mir geredet, was wollt Ihr wissen?«

»Es kursieren Gerüchte, dass Ihr nach Eurer Messe … gewisse Praktiken ausübt.«

»Was? Wer sagt sowas? Er soll sich zeigen, auf dass der Herr ihn strafe!«

»Gemach, Vikar, gemach. Es sind Gerüchte und ich muss ihnen nachgehen.«

»Was sollen das für Praktiken sein? Ich unterrichte Ministranten und Konfirmanden, natürlich, ich stehe meiner Gemeinde mit Rat und Tat zur Verfügung. Wer immer ein Problem hat, kann zu mir kommen. Das nun schon seit, Gott, seit bald 60 Jahren!«

»Ihr seid also immer gut informiert, was in Eurer Gemeinde vor sich geht, richtig?«

»Inspektor, ich muss doch sehr bitten. Worauf spielt Ihr an?«

»Wie gesagt, es sind Gerüchte und ich muss Ihnen nachgehen, deswegen frage ich Euch ganz direkt: Habt Ihr schon einmal Rituale gelehrt oder vollzogen, die nichts mit dem Christentum zu tun haben?«

»Ihr geht nun besser, Inspektor. Es wird Zeit.«

»Setzt Euch wieder hin und beantwortet die Frage.«

»Wie kommt Ihr auf solche Ideen? Wer setzt so etwas in die Welt? Ich bin ein Mann Gottes, kein Teufelsanbeter!«

»Die Witwe Soulbury, Gott sei der Seele ihres verstorbenen Mannes gnädig, deutete mir gegenüber unlängst im Vertrauen an, dass Ihr auch mit einem Messer umzugehen vermögt, Sir. Was habt Ihr dazu zu sagen? Was ist, warum seid Ihr auf einmal so bleich?«

»Ich, ich …«

»Ja, Vikar?«

»Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein …«

»Vikar, ich bitte Euch, es ist Zeit. Macht reinen Tisch und ich bin mir sicher, Euer Herr wird Euch vergeben.«

»Großer Gott, wisst Ihr, was Ihr da von mir verlangt? Alles, was ich je tat, tat ich für meine Gemeinde!«

»Daran gibt es keine Zweifel, dennoch muss ich die Wahrheit erfahren.«

»Gott sei meiner Seele gnädig, ich sage Euch, was damals passierte. Mary kam als Hermaphrodit auf die Welt. Ihre Mutter, Madame Spencer, eilte bald nach der Geburt zu mir, sie wirkte entsetzlich verzweifelt, als hätte sie einen Teufel geboren. Für jemanden ihres Standes undenkbar. Und als ich es sah, verstand ich ihren Begehr. Ich bestand darauf, mit Sir Spencer zu sprechen, doch sie schwor, er wäre einverstanden und könne es nicht ertragen, dabei zu sein. Ich hatte kein gutes Gefühl, alles schien falsch zu sein. Doch als Vikar und Wundarzt tat ich, was ich tun musste. Die Kleine, das Wesen, trat und wehrte sich heftig. Meine Hände zögerten oftmals, sodass mein Messer sie zwischen den Schenkeln verletzte. Wieder und wieder. Es war eine unselige Prozedur. Ihr glaubt gar nicht, wie viele Tode ich in dieser Nacht gestorben bin und wie oft ich seitdem den Herrn um Vergebung gebeten habe. Als Sir Spencer erfuhr, was ich getan hatte, war er außer sich. Er wollte einen Sohn haben und nun hatte er eine Tochter.«

»Er ging davon aus, dass Ihr die Wahl hattet?«

»So ist es, doch wie hätte ich …? ‚Zur Not Nadel und Faden!‘ schrie er, wollte nichts davon wissen, dass es nicht so einfach wäre. Er schalt mich einen Lügner und betrat nie wieder die Kirche.«

»Hm, dann sind die Beobachtungen des Bediensteten Chambers …«

»Anfangs kümmerte sich Sir Spencer um den Wechsel der Verbände, später wollte er dann und wann nachsehen, ob nicht doch noch etwas wächst. Doch als Mary älter wurde …«

»… wehrte sie sich mehr und mehr dagegen.«

»Bis es zu einem Bruch kam, Mary muss die Wahrheit erfahren haben und die Spencers entschieden, sie aufs Internat zu schicken.«

»Oder sie ging freiwillig. Hm, hm, hm. Dann war die Feuersbrunst …«

»… vermutlich Marys Rache.«

»Und die Lebkuchen? Vikar?«

»Mary wollte immer eigene Kinder, doch scheinbar …«

»… ging das nicht. Also sollten John und Margaret … ihre Ersatzkinder sein?«

»Es ist alles meine Schuld, ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfen. Das arme Wesen, Gott allein weiß, wie lange es schon einsam und schmerzgeplagt im Wald in dieser Hütte hauste. Was werdet Ihr nun tun, Sir?«

»Hm. Was mich anbetrifft, Marys unsägliches Leid ist vorbei. Die Kinder sind wohlauf, das Hexenhaus verbrannt. Es war ein langer Tag. Vielleicht wird es Zeit, den Fall zu den Akten zu legen. Und Ihr, Sir, solltet zukünftig die Finger von Messern lassen.«

»Das werde ich gewiss, Inspektor. Der neue Wundarzt im Ort leistet hervorragende Dienste. Da drüben kommen die zwei Gebrüder, die hier jeden befragen. Die sind ganz wild darauf, alles zu erfahren.«

»Keine Sorge, Vikar. Ich werde ihnen eine gute Geschichte erzählen.«

(John = Johann = Hans = Hänsel)
(Margaret = Grete = Gretel)

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Marion Schreiner

    Diese Geschichte ist dir sehr gut gelungen. Vor allen Dingen liest sich der Anfang sehr interessant. Das Gespräch ist lebendig und ersetzt hervorragend die Handlungen. Gutes Kopfkino. Weiter so. Märchen und Realität können sehr gut miteinander verschmelzen.

    1. marco

      Vielen Dank, Marion. Freut mich sehr.

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