Eine Gruselgeschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive.
Stell dir vor, auf einmal ist es dunkel. Du ärgerst dich. So was Blödes. Bei all der Technik, bei all dem Fortschritt, wie kann da der Strom ausfallen? Du erinnerst dich, der Kühlschrank hält die Temperatur etwa 24 Stunden. Der Eisschrank 48 Stunden. Du fühlst Erleichterung, so lange wird es schon nicht dauern. Du gehst zum Fenster, siehst hinaus und blickst genervt in die Dunkelheit. Deinen Nachbarn geht es genauso. Na, warum soll es denen besser gehen?
Dein Smartphone, du kannst jemanden anrufen. Aber wen? Deine Freundin, sie wohnt im Nachbarort. Bestimmt lacht sie, wenn sie das hört, weil sie Strom hat. Du schaust aufs Display. Kein Service. Verdammte Technik. Was nun? Kochen geht nicht, Internet geht nicht, Wäsche waschen geht nicht, Fernsehen geht nicht. Was machst du? Hast du Kerzen? Du überlegst. Da ist eine Taschenlampe in der Küche. Natürlich. Die Batterien sind leer. Jetzt bist du erst recht genervt. Die einzige Lichtquelle in deiner Wohnung ist dein Smartphone. Dein Auto, genau. Das ist unabhängig. Ich fahre zu ihr, was soll ich auch hier alleine?
Du gehst raus. Wie gruselig, alles ist schwarz. Der Mond ist nicht zu sehen, einzig das schwache Licht deines Smartphones, das kaum bis zum Boden reicht, zeigt dir verstohlen den Weg. Du steigst ein, startest den Motor. Auf geht‘s. Dein Blick geht zur Tankanzeige. Halb voll. Es sind elf Kilometer bis zum Nachbarort. Kein Problem. Du fährst los, durch die leeren Straßen raus aus der Ortschaft, Überland in Richtung Nachbarort. Die Lichtkegel deines Fahrzeugs werfen ein eigenartig einsames Licht auf die Straße. Nach ein paar Minuten klopft es im Motorraum.
Ausgerechnet da, wo die Straße durch ein Waldstück führt. Schon ist es so weit: Der Motor verweigert den Dienst und der Wagen rollt aus. Das kann jetzt nicht wahr sein! Du drehst am Schlüssel, der Anlasser dreht. Wieder und wieder. Kein Erfolg. Das gibts doch alles nicht. Du spürst, wie das genervte Gefühl in dir langsam einer ureigenen Angst Platz macht. Hoffnungsvoll schaust du auf dein Smartphone: Kein Service. Welche Optionen stehen im Raum? Warten? Hoffen? Wie weit ist es noch? Fünf Kilometer?
Du hast keine Wahl, du schaltest pflichtbewusst das Warnblinklicht an, drückst auf den Knopf der Fernbedienung und gehst los. Dein Smartphone hat noch 80% Akku, das Licht kommt kaum am Boden an. Es ist nicht mehr als ein Gerücht in der Dunkelheit. Du gehst und spürst leichten Wind, der dir Haarsträhnen ins Gesicht weht. Deine Ohren lauschen, während du die Straße entlang durch den Wald gehst, der links und rechts auch das letzte bisschen Licht verschluckt. Wie schwarze Wände. Auch vor dir und hinter dir: Alles schwarz. Nur der schwache Lichtschein deines Smartphones zeigt dir ein kleines Stück Weg.
War da ein Knacken? Du bleibst stehen. Lauschst in die Dunkelheit. Wie war das mit der Selbstsuggestion, von der du gelesen hast? Alles ist gut, mir wird nichts passieren. Ich gehe weiter und werde gesund ankommen. Doch das ungute Gefühl in dir ist nicht überzeugt, es will nicht weichen. Warum kommt ausgerechnet heute kein Auto? Du hörst ein Knacken, ein Rascheln. Ein dumpfes Geräusch. Springt da etwas vom Baum? Du willst nicht, aber dein Kopf dreht sich nach rechts, während du gehst. Das war bestimmt ein morscher Ast. Es muss einer gewesen sein!
Du spürst, wie du schneller wirst. Dein Kopf dreht sich von rechts nach links und wieder nach rechts. Warum ist es auf einmal so kalt? Dein Herz klopft lauter, du fluchst innerlich, hast das Gefühl, es klopft viel zu laut. Dadurch hörst du schlechter in der Stille der Nacht. Als würde dein Herzklopfen die Geräusche der Umgebung übertönen. Bei dem Gedanken schmunzelst du, denkst Herrgott, reiß dich zusammen. Du bist erwachsen und hast Angst vor der Natur? Es ist doch nur Nacht. Aber dein Herz ist nicht überzeugt, es schlägt noch immer viel zu schnell und deine Mundwinkel senken sich.
Du siehst dich um, versuchst, deine Atmung zu verlangsamen. Warum ist dir gar nicht aufgefallen, dass du nahe am Hyperventilieren bist? Verdammt, reiß dich zusammen! Ein Uhu ruft in der Dunkelheit, fast wäre dein Herz stehengeblieben. Du nimmst deine Hand von der Brust und atmest tief aus. Jetzt spürst du Wut. Wut auf dich selbst. Entschlossen konzentrierst du dich auf die Straße und gehst weiter. Was soll schon passieren? Irgendwelche Räuber? Die Zeiten sind längst vorbei. Jeden Tag sind Waldarbeiter unterwegs, die hätten längst die Polizei informiert. Da ist nichts. Mach dich nicht lächerlich!
Doch dein Herz gibt sich damit nicht zufrieden, warum tut es eigentlich nie, was du willst? Das schwache Licht vor dir beginnt leicht zu zittern. Du spürst deinen Arm, er ist es, der zittert. Das mulmige Gefühl wird stärker. Blöder Arm, komm schon. Ein Rascheln links, ein Knacken rechts. Ist das normal, dass der Wald so viele Geräusche macht? Es pocht unter deiner Brust, du fühlst dich schwach, dir ist kalt. Du sehnst dich nach einer heißen Badewanne. Oh, wie schön wäre das jetzt, mit dem großen Stück gut riechender Lush-Seife, das du dir geleistet hast. Du schreist auf, vor deinem rechten Fuß liegt ein totes Tier. Eine Blutspur führt nach rechts ins Gras. Du hörst ein Klappern. Plötzlich ist alles finster. Du hast das Smartphone fallen lassen. Einen Augenblick kannst du dich nicht bewegen.
Deine Ohren lauschen angespannt in alle Richtungen. Wo genau ist es hingefallen? Wo liegt es? Neben dem Tier? Du spürst Ekel beim Gedanken, dass es vielleicht vom Asphalt abgeprallt und auf dem Kadaver gelandet ist. Was war das eigentlich? Ein Fuchs? Wo war das Gerät zuletzt? Du schiebst deinen Fuß vorsichtig nach vorne, lässt ihn zaghaft über den Asphalt fahren. Bloß nicht das tote Tier berühren, wer weiß, wie viele Keime da dran sind. Bei dem Gedanken spürst du den Joghurt vom Nachmittag. Er war schon abgelaufen, schmeckte aber noch ok. Vielleicht war er doch schlecht? Er schiebt sich langsam die Speiseröhre hoch, so fühlt es sich an. Oder ist das Sodbrennen?
Du spürst deine Augen, sie werden feucht. Verzweiflung schickt sich an, von dir Besitz zu ergreifen. Komm schon! flehst du in Gedanken, während dein Fuß noch immer zaghaft die Straße absucht. Bitte! Da ist was, ein Widerstand. Und wenn es das Tier ist? Du erschauderst, dein Herz pocht, dein Magen dreht sich, du spürst die kalte Umklammerung der Nacht, die dich verschlingen will. Langsam beugst du dich nach unten. Deine Hand zittert, du versuchst sie an deine Schuhspitze zu führen.
Es knackt rechts neben dir, du verharrst, lauschst. Kommt da was? War das ein Schritt? Du spürst die Hitze in deinen Kopf schießen, das Adrenalin. Dir wird klar, du hältst schon seit einigen Sekunden die Luft an. Ganz langsam atmest du aus und ziehst kalte Luft tief in deine Lunge, so langsam, dass es kein Geräusch erzeugt, du brauchst die Ohren. Sei leise! Es ist still, deine Hand berührt deine Schuhspitze, dein Zeigefinger tastet sich Millimeter für Millimeter nach vorne. Da! Da ist es.
Erleichterung, du hebst es auf, hörst von der Seite Schritte näherkommen. Deine Hand will das Licht einschalten, während deine Füße einen Befehl zum Rennen erhalten, obwohl dein Herz noch auf Freude eingestellt ist. Es geht alles zu schnell, dein rechter Fuß stolpert über das Tier und du fällst hin. Wieder klappert es und du hörst, das Gerät liegt etwa einen halben Meter vor dir. Du streckst die Hand aus, bis dein Hirn dir zu verstehen gibt, das war der falsche Befehl. Du musst aufstehen, stehe endlich auf!
Ein dumpfer Schlag im Rücken, etwas Schweres ist auf dich gefallen. Sekundenbruchteile später spürst du den Schmerz, etwas ist in deinen Rücken eingedrungen. Das Geräusch erinnert dich an deinen Großvater; so klang es, wenn er Holz hackte. Die Kälte wird immer stärker, du spürst, wie alle Energie aus dir entweicht. Dass du lauthals schreist, bekommst du gar nicht mit. Gedanken und Gefühle schießen wie wild durcheinander. Du glaubst nicht, was hier passiert, du sehnst dich nach deiner Badewanne, nach der Lush-Seife, nach deiner Freundin und einem schönen Glas Wein.
Du schreist wie ein Ferkel kurz vor der Schlachtung, als du spürst, wie etwas mit brutaler Gewalt aus deinem Rücken gerissen wird. Da ist etwas aus deinem Körper verschwunden, das vorher noch da war. Da ist ein eigenartiges Gefühl von Leere, wo gerade noch etwas war. Du bist nicht mehr komplett, ein Gedanke drängt sich in deinen Kopf, ein urtümlicher, instinktiver Gedanke. Er wird zur Gewissheit, als du dieses Zack erneut hörst. Spüren kannst du schon nichts mehr, es ist alles kalt. Ob du schreist, merkst du nicht mehr. Du denkst an deine Mutter. An ihre Augen, an ihre Stimme.
Du fragst dich, was sie wohl sagen wird. Ob sie dich trotzdem lieb hat? Erinnerungen, die längst verschollen geglaubt waren, ziehen vor deinem geistigen Auge vorbei. Wie du im Kindergarten gespielt hast, wie dich Mama abgeholt hat und du erzählt hast, was du alles gemacht hast. Wie stolz du warst, als du endlich lesen und schreiben konntest. Und wie stolz du auf das Bild warst, das du Papa zum Geburtstag gemalt hast. Du erinnerst dich an seine Stimme und fragst dich, was er wohl denken wird, ob er böse auf dich ist, weil du mit alleine im Dunkeln losgefahren bist. Du willst nicht, dass er böse ist, wolltest immer, dass er stolz auf dich ist. Papi, tut … mir … so … leid!
Du schreist und öffnest die Augen, die Sonne scheint durchs Fenster. Du atmest schwer, bist nass geschwitzt. Du fasst an deine Brust, fährst über deine Haare, schaust dich um. Warum ist der Boden so dreckig? Deine Katze faucht dich an, ist sie dir auf den Rücken gesprungen? Du bekommst dieses Zack nicht mehr aus dem Kopf, dieses Geräusch, wenn eine Axt ins Holz schlägt. Da, da ist es wieder! Die Gänsehaut auf deinen Armen lässt jedes Schleifpapier vor Neid erblassen. Da wieder! Es kommt von draußen! Hektisch stehst du auf und siehst aus dem Fenster. Es ist Samstag, du erinnerst dich. Der Nachbar hat seine Holzlieferung bekommen. Du siehst dein Smartphone und erschauerst. Auf dem Display sind blutige Fingerabdrücke!
Das ist wahnsinnig toll geschrieben. Man spürt, wie du in die Situation einsteigst und sie fließen lässt. Ängste, die sich einstellen, weiterfließen, ihre Richtung ändern, wieder fließen. Münden in dem vorher Unvorstellbaren. Das Ende ist grandios. Toll!
Was mir immer wieder an deinen Geschichten gefällt, ist die Art wie sie beginnen, sich dann entwickeln und schließlich enden. Man spürt, wie tief in dich versunken du die Worte formst, die Situationen entstehen lässt und zu Papier bringst. Ein intensiver Schreibprozeß.
Danke, Marion. Dieser Text aus der du-Perspektive zeigt, wie eingeschränkt sie ist. Das Du spricht dich als Leser direkt an, gleichzeitig kannst du nur solange folgen, wie Dinge passieren, die auch dir passieren könnten. Dennoch ist dieser Text einer meiner Lieblingstexte.