Der lange Weg zu mir

Februar 2021. Geschichte über ein Trauma und das innere Kind


„Versuchen Sie es, Herr Rätz. Schließen Sie die Augen und versuchen Sie, sich Ihr jüngeres Ich vorzustellen.“

Meine Hände sind feucht und mein Herz unruhig, aber ich schließe meine Augen und suche nach dem Gesicht des Jungen. Kurz darauf sehe ich ihn. Er sieht mich fragend an.

„Wie soll ich es dir erklären? Was soll ich dir sagen? Du willst mir ja scheinbar nicht zuhören. Du weigerst dich, mir zu glauben, tust so, als würde ich lügen. Du verhältst dich wie ein kleines Kind. Genau das bist du, ein kleines Kind. Willst spielen, naschen und von Mami verhätschelt werden. Damit wärst du zufrieden, nicht wahr? Mehr brauchst du nicht. Aber das ist illusorisch, es geht nicht. Warum? Weil sie nicht mehr da ist. Weil sie gegangen ist. Wohin? Sie ist weg, schon sehr lange. Jetzt schau mich nicht so an mit deinen grünen Glupschaugen.

Es ist wahr. Doch es ist wahr. Du kannst es noch auf ewig leugnen, dadurch wird es aber auch nicht anders. Tja, nein. Das sagst du immer. Nein und schmollst. Schüttelst den Kopf, senkst ihn und schmollst. Willst es nicht wahrhaben, willst es nicht glauben. Was soll ich dir sagen? Was willst du hören? Wie kann ich es dir nur begreiflich machen? Ich komme nicht weiter, an der Stelle ist immer irgendwie Schluss mit meiner Fähigkeit, dich zu packen. Ich sehe dich, wie du da sitzt und wartest. Wie du immer noch hoffst und glaubst und unabänderlich wie eine in Stein gemeißelte Wahrheit tiefer Überzeugung bist, du hast recht. Aber du hast nicht recht und weißt du was? Ich beneide dich. Irgendwie beneide ich dich. Du bist so von Grund auf gut und ehrlich und von reinem Herzen.

Du bist so klein und zerbrechlich, voller Angst und sehr empfindlich. Aber gleichzeitig spüre ich auch deine Kraft, wenn du mir immer und immer wieder widersprichst, wenn du dich mit dem Gesicht voll Überzeugung hinsetzt, die Arme verschränkst und mich anblickst, als wüsstest du genau, wovon du sprichst. Als wärst du ein Seher oder als hätte dir jemand eine Wahrheit ins Ohr geflüstert, ohne dass ich es gesehen habe. In dem Moment bist du so unglaublich stark, so tapfer und voller Kraft, und ich beneide dich dafür. Aber es ist mehr als das, ich liebe dich in diesen Momenten, ich liebe dich als Teil von mir, weil ich weiß, dass du in mir bist, weil ich weiß, du bist ich und weil ich weiß, wir beide gehören zusammen. Ich liebe dich mein Kind und es tut mir so leid, was geschehen ist.

Es tut mir so unglaublich leid. Aber Mama ist weg und du musst es akzeptieren. Ich weiß, es tut so unfassbar weh, es schmerzt mich, dich so zu sehen, und Gott, ich würde alles tun, dich in die Arme zu nehmen und dir Trost zu spenden.“

„Wie geht es Ihnen nun, Herr Rätz?“

Ich öffne meine Augen. Verunsichert wische ich mit dem Handballen übers Gesicht und weiß nicht, wohin ich blicken soll, fühle mich überfordert. Diese Sitzungen sind so anstrengend und ich spüre tief in mir, wie der vergrabene Schmerz mich zu überkommen droht. Ich spüre, wie es brodelt und wie viel da unten kurz unter der Oberfläche eigentlich wartet. Ich habe Angst, Angst davor, dass es unkontrolliert hervorbricht.

„Mir ist es unangenehm.“

„Warum ist das so? Ich bewerte Sie nicht deswegen.“

„Weil ich … ich komme mir blöd vor, ich rede mit mir selbst.“

„Dieser Anteil in Ihnen, der kleine Junge, hat die Nachricht noch nicht erhalten. Er weiß nicht, dass seine Mutter damals gestorben ist. Er sitzt noch immer da und wartet geduldig, bis Mama heimkehrt. Diese Verleugnung der Wahrheit resultiert aus tiefgehenden Schuldgefühlen. In der Trauerbewältigung ist es wichtig, diesem Anteil mitzuteilen, dass er keine Schuld trägt und nicht alleine ist, sondern dass Sie für ihn da sind, für ihn sorgen und sich um ihn kümmern. Das können Sie malen, schreiben, denken, die Form ist egal. Wichtig ist nur, dass Sie versuchen, sich den Jungen vorzustellen, als eigenen Menschen. Versuchen Sie, sich vorzustellen, wie Sie damals waren, wie Sie reagiert haben. Beobachten Sie, gehen Sie auf ihn ein, seien Sie liebevoll mit sich. Wenn Sie das oft genug wiederholen, gleich in welcher Form, wird Ihr System die Botschaft aufnehmen, und der Anteil in Ihnen, der die Wirklichkeit verleugnet, wird schrumpfen und irgendwann verstummen.“

Mein Blick geht zu Boden und ich schäme mich für meine Unfähigkeit. Ich bin jetzt 22 Jahre alt, meine Mutter schon 15 Jahre tot. Die Psychotherapeutin schaut mich an mit Überzeugung in den Augen. Aber ich fühle mich, als hätte sie mich aufgefordert, chinesisch zu reden, ohne es je gelernt zu haben. Noch einmal schließe ich meine Augen und stelle mir vor, wie der 7-jährige Tobias am Tag der Nachricht ausgesehen und was er gefühlt hat. Am Tag, als sie sich herzlos das Leben nahm, ohne Rücksicht, was sie ihm damit antat.

Ungläubigkeit, aber auch Wissen. Hin- und hergerissen zwischen den Wahrheiten, für die er sie hält, versucht er einen Weg zu finden. Ganz alleine, denn seine Brüder und sein Papa sind überfordert, genau wie er.

„Tobias.“

Er sieht mich an, weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Ich reiche ihm die Hand mit so viel Güte in meinen Augen, als würde ich der ganzen Welt die Hand reichen. Als würde ich allen und allem verzeihen können, nur um mir selbst verzeihen zu dürfen. Und ich hoffe so sehr, dass er einfach zupackt, dass er einfach die Hand nimmt. Aber er sieht weg, dreht seinen Kopf, als wäre ich nicht da.

„Tobias, ich weiß es doch. Ich weiß, was du getan hast.“

Skeptisch blickt er mich an, meine Tränen kann ich kaum mehr zurückhalten. Eine nach der anderen kullern sie meine Wangen hinab und ich spüre die lodernde Verzweiflung in mir Anlauf nehmen.

„Du wusstest es nicht besser. Du wusstest nicht, was du sagst.“

Er wirkt unsicher, noch nicht überzeugt, fragt ’Mama?’, und sieht mich an. Aber dadurch spüre ich plötzlich eine starke Zuversicht in mir. Denn ich weiß es, tief in meinem Innersten weiß ich es.

„Du warst noch so klein, ein Kind. Und sie war erwachsen, sie hätte sich Hilfe holen müssen. Nach eurem Streit ging sie mit den Worten ’Hoffentlich bin ich bald tot’, und du warst wütend auf sie, du warst wütend, weil ihr euch kurz zuvor gestritten hattet, weil dir irgendwas nicht gepasst hat. Und als du ihr patzig ’Ja, hoffentlich’ hinterhergeworfen hast, war das die Wut, die da gesprochen hat. Du bist nicht schuld, dass sie gegangen ist. Es war nicht deine Schuld!“

Für den Bruchteil einer Sekunde scheint die Zeit still zu stehen. Wie in Zeitlupe sehe ich den Jungen fast wie ein Spiegelbild zerspringen, untermalt von einem kristallinen Kling. Ganz langsam bewegen sich die Teile in der Luft und gleichzeitig spüre ich überraschend ein Gefühl in meiner Brust, als würde sich mein Herz weigern, weiterzuschlagen. In diesem kurzen Augenblick durchrast Hitze meinen Körper, während alle Sinne verzweifelt ein Versteck vor der Dunkelheit suchen. Zwischen zwei Herzschlägen scheint die Zeit still zu stehen, und was sich dort befindet, ist kein Anfang und kein Ende. Es ist pures Grauen, verfolgt von einer heißen Welle, die meinen Kehlkopf von unten zu durchstoßen droht. Schon mit dem nächsten Herzschlag reagiert mein Körper auf die unerwartete Botschaft.

Schlagartig durchbricht die angesammelte Trauer den Rest meiner Fassung und schießt gewaltsam aus mir hervor. Ich sacke mit bebendem Körper in mir zusammen, die Hände zu Fäusten geballt fest aufs Gesicht gepresst, als könnte ich dadurch irgendetwas ändern. Der Junge vor meinem inneren Auge zerbricht förmlich, rollt sich auf dem Boden liegend wie ein sterbendes Tier zusammen, und wir heulen wie genährt aus endlosen, niemals versiegenden Quellen, aus Trauer und Schmerz. Wie automatisch strecke ich meine Hand aus, nähere mich dem verzweifelten Jungen voller Mitgefühl, nehme ihn behutsam an meine Brust und drücke ihn. Sanft wiegen wir hin und her und heulen dabei so laut und erbärmlich, als würde sich die Trauer der gesammelten Menschheit aus unseren Augen ergießen. All der Schmerz und die Trauer, Wut und Verzweiflung entladen sich in einem Ausbruch, der so tief im Innersten wütet, als würde dort jemand mit einer glühenden Lanze herumstochern.

Irgendwann später kann ich keine Träne mehr aus meinen Augen hervorbringen. Mein ganzer Oberkörper schmerzt, müde wische ich über mein Gesicht, ich bin so müde. Und so leer wie eine verdorrte Hülle aus Fleisch.

Die Stunde ist um, langsam packe ich meine Sachen und schlurfe aus der Praxis. Auf dem Weg zum Auto spüre ich nichts mehr, als wären alle Gedanken und Gefühle einfach abgestorben. So sitze ich noch eine Weile hinter dem Lenkrad und starre durch die Scheibe hinaus, irgendwohin. Ich beginne zu ahnen, dass es noch ein langer Weg sein wird, bis ich mit meinem inneren Kind wieder verbunden bin. Irgendwann wandert eine Szene von einem Weihnachtsfest durch meinen Geist. Mutter spielt Gitarre, Vater und die drei Kinder singen ’Oh du fröhliche’ und ich kann ihn sehen, wie er immer wieder heimlich in Richtung des festlich geschmückten Baumes sieht, unter dem ein großer Berg Geschenke in buntem, weihnachtlich aussehendem Papier verpackt liegt. Bei diesem Bild spüre ich Wehmut und das warme Gefühl von Geborgenheit wie damals. Und ich fühle mich dem Jungen so nah wie seit Langem nicht.

Auf einmal dreht er seinen Kopf und sieht mich direkt an. Und er lächelt.

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Geschichte „Der lange Weg zu mir.“

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

    1. marco

      Danke fürs Lesen und Verstehen, Marion.

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