Eines fernen Tages – Juni 2022

Eine Kurzgeschichte über eine nicht ganz so unrealistische Zukunft unserer Welt. Science-Fiction, Coming-of-Age und ein wenig Pandemie.

Kleine Sternschnuppe, ich musste eine schwierige Entscheidung treffen und möchte dir erklären, wie es dazu kam. Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich für das Leben bereit. Dann gab es Momente, da wollte ich sterben. An anderen Tagen wusste ich nicht, was das Richtige ist. Wie soll es auch anders sein? Wenn man jung ist, die Zukunft offen wie das gigantische Universum erscheint, gehen die Gefühle schnell auf und ab. Bei jedem Rückschlag geht die Welt unter und immer, wenn etwas funktioniert, fühlt man sich wie Gott persönlich, tanzt auf einem Regenbogen.

So war es auch bei mir. Doch es änderte sich mit dem Krieg. Auf einmal mussten Prioritäten neu gesetzt werden. Die Invasion begann ohne Vorwarnung. Wie lächerlich das klingt. Wie aus einem billigen B-Movie. Aber ist es nicht so, dass Ignoranz zu Kriegen führt? Wir dachten, wir hätten alles im Griff. Wir dachten, wir könnten immer so weitermachen. Und wir dachten, wir wären die Einzigen im unendlichen Universum. Fatale Irrtümer.

Ich musste schnell erwachsen werden. Als ich 18 wurde, genau an meinem Geburtstag, kam das Schreiben. Das war drei Jahre nach Beginn der Invasion.

Sie begann still und leise. Im Juni 2049 kehrte die Dragon vom Mars zurück. Elon Musk war der Held aller Menschen, er hatte geschafft, was niemand für möglich gehalten hätte. Etwa 150 Kilo Proben brachte die Rakete zurück, die Forscher weltweit waren entzückt. Doch es gab auch kritische Stimmen, die nicht verstehen konnten, wieso wir Milliarden für Unrat von einem fremden Planeten ausgeben, während Menschen noch immer hungern. Bald lachte keiner mehr über sie.

Die Proben wurden in einem amerikanischen Labor untersucht. Schon bald kursierten Gerüchte über Probleme mit der Quarantäne. Die Medien versuchten, an Informationen zu kommen, doch der gesamte amerikanische Abwehrapparat stellte sich dagegen. Man wollte es vertuschen, wie üblich. Was für ein Irrsinn.

Später kam heraus, in den Proben fanden sich Mikroorganismen. Sie wurden durch Wärme und Wasser aktiv und vermehrten sich schneller, als die Forscher ein Reagenzglas schließen konnten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie aus dem Labor entkommen sollten. Meine Schwester Mary hackte die Datenbank von GlobalResearch. Das war der Konzern, in dessen Laborkomplex die Proben untersucht wurden. Was Mary dort fand, schockierte uns nicht. Es lähmte uns. Zumindest für eine Weile.

Stell dir vor, Millionen von Mikroorganismen wachsen und verbreiten sich über die ganze Welt. Im Kern kennt man das von Viren oder Pilzen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Aber diese Organismen waren keine Viren, es waren extraterrestrische Parasiten. Sie befielen die Menschen, nisteten sich ein und binnen zehn Tagen war der Wirt tot. Anfangs hielten die Forscher es für ein neues Virus und empfahlen Maskenpflicht, später Kontaktbeschränkungen, noch später Lockdowns und Ausgangssperren. Viel zu spät.

Die Sterberate stieg mit unbarmherziger Geschwindigkeit und in der Folge brach ein Krieg aus, der von Angst und Panik beherrscht wurde. Der Kampf um Schutzanzüge und Lebensmittel überrollte die Welt. Überforderte Politiker schickten Militär, es war ein ungleicher Kampf ohne Sieger. Selbst etablierte Labore kamen nicht dahinter, wie dieser Parasit aufzuhalten ist. Eilig wurden ganze Quarantäne-Städte gebaut, ein Leben unter Plastik schien die einzige Möglichkeit zu sein. Alle sollten Schutz finden, aber natürlich wurden ‚Wichtige‘ bevorzugt eingelassen. Es glich einem Todesurteil für all die anderen.

Ich hatte Glück, mein Vater war Senator und damit einer der ‚Wichtigen‘. So kroch ich unter den Schutz des Plastikhimmels und lernte in der Interimsschule deine Mutter kennen.

Sie mochte mich anfangs nicht besonders, obwohl ich damals keine Klassengedanken kannte. Aber für sie war ich einer der Versnobten, ein Kind der Oberen, und sie nur die Tochter der Lehrerin, die nur deswegen unter dem Plastik sein durfte, weil ihre Mutter Biologie unterrichtete.

Diese dummen Klassengedanken waren weit verbreitet, ich betone das, weil es so wichtig ist zu verstehen, wie destruktiv dieses Denken ist. Nur gemeinsam können wir etwas schaffen, das hat sie mir schon bald schmerzhaft klargemacht.

Beim Sport war sie eine der Besten, jeder wollte sie in seiner Mannschaft haben. Ich kam gleich danach, meist waren wir Gegner. Spiel für Spiel ging es nur darum, zu gewinnen. Zuerst für sie, später für jeden von uns. Unser Sport mutierte zu einem Kampf der Klassen. Und er wurde immer unerbittlicher.

Sie lernte schnell, konnte bald jeden blocken, bekam jeden Ball, sie war das willensstärkste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Eine wahre Meisterjägerin. Mit brutaler Härte schraubte sie die Disziplin in die Höhe und ich folgte ihr. Auf dem Höhepunkt der Eskalation brach sie mir die Nase, natürlich aus Versehen. Ich weiß nicht, wie der Ellbogen in mein Gesicht kam, es ging so schnell.

Hinterher sah ich Sternchen, aber das Donnerwetter war vorprogrammiert. Sie musste sich bei mir entschuldigen und ich sah in ihren Augen, als sie die Worte sprach, wie Gift und Galle ihre Begleiter waren. Doch ich wollte das so nicht stehenlassen. Die Begegnung mit ihrem Ellbogen hat mir schlagartig klargemacht, wie sehr wir uns verirrt hatten. Statt miteinander zu arbeiten, waren die einzigen Gedanken auf dem Höhepunkt der Konfrontation, wie man den Gegner überlisten und schlussendlich sogar ausschalten konnte. Was für ein Wahnsinn.

Aus dem geheimen Lager meines Vaters stahl ich eine Flasche und ging zu ihr. Ich wusste, weit hinten am Ende der Stadt lag ein See. Über ihm, in der Schutzabdeckung, waren einige Stellen aus klarem Kunststoff. Man konnte sogar die Sterne sehen, wenn die Wolken es zuließen. Und ich wusste, sie würde da sein. Alleine. Über den Laptop meines Vaters habe ich das Signal ihres eingepflanzten ID-Chips geortet. Also überraschte ich sie mit einer Flasche Whiskey.

Ich hatte versehentlich Kräuterlikör gewählt. Deine Mutter lachte sich kaputt, nahm einen Schluck und deutete auf die Bank. Das Eis war gebrochen. Wie sich herausstellte, teilten wir viele Gedanken über die Geschehnisse außerhalb des Dinosaurierschildes. So nannte sie das weit verzweigte Plastikdach. Je mehr Zeit verstrich, umso stiller wurde ich und hörte zu, was sie alles wusste und erzählte. Ich lauschte dem ruhigen Klang ihrer Stimme, wenn sie über ihre Gedanken sprach. Sie offenbarte sich auf völlig neue Weise und steckte mich damit an. Das Eis war geschmolzen. Am Ende stand die Flasche halbleer neben uns und wir grübelten, wie wir das zu Hause verbergen konnten. Wir fanden einen Weg.

Von da an trafen wir uns regelmäßig, die Themen gingen nie aus. Unsere Gespräche berührten immer intimere Dinge und eines Tages, als wir einen Moment keine Worte fanden, küsste sie mich.

Zwei 16-jährige Teenager auf einer Bank am See unter dem Dinosaurierschild. Die Magie in jenem Moment war unbeschreiblich, als würden wir losgelöst von allem durch die Galaxis schweben. Das Eiswasser verdampfte.

Eine Weile konnten wir es geheim halten. Wir nutzten die nachfolgende Zeit, um nicht nur den Sport wieder zu dem zu machen, was er eigentlich sein sollte. Wir wurden auch in der Schule aktiv, warben für mehr Toleranz. Und tatsächlich, die Stimmung änderte sich. Das Leben unter dem Schild wurde ruhiger. Natürlich gab es immer noch solche mit Klassengedanken, die andere aufgrund ihrer Stellung benachteiligen wollten, aber es wurde merklich weniger. Der Bauch deiner Mutter wurde allerdings nicht weniger. Bald war das Geheimnis offenbar. Unsere Eltern zeigten sich wenig begeistert, doch wir konnten sie mäßigen und schlussendlich überzeugen. Immerhin ging es um nicht weniger als um dich, kleine Sternschnuppe.

In der Welt da draußen geschahen derweil erschreckende Dinge. Aus den vielen Toten, die überall herumlagen, weil es einfach zu viele waren, um sie alle fortzuschaffen, schlüpften schon bald Insekten. So groß wie Hornissen, aber zu aller Überraschung ernährten sie sich von Biomasse. Und zwar von allem, was da war.

Als sie die Leichen aufgefressen hatten, befielen sie die Natur. Blätter, Äste, Bäume, alles. Uns drohte der Sauerstoff auszugehen, also produzierten wir in Windeseile Insektizide, sprühten aus umgebauten Jumbojets heraus und konnten doch kaum Schritt halten. Denn so schnell wir sie auch tilgten, sie vermehrten sich fast ebenso schnell. Unsere Ressourcen drohten zur Neige zu gehen, die Weltwirtschaft lief im absoluten Notprogramm.

Ein Thinktank aus New Orleans kam dann mit einer völlig verrückten Idee daher. Und doch war sie unsere einzige Hoffnung. Während die Nasa und SpaceX sich vorbereiteten, passierte das, was ich eingangs schon erwähnt habe. An meinem achtzehnten Geburtstag kam der Einberufungsbescheid. Du warst gerade drei Monate alt, als ich fortging.

Die Vermutung des Thinktanks war, dass wir auf dem Mars einen natürlichen Feind der ‚Hornissen‘ finden. Unsere einzige Hoffnung im Wettlauf gegen die Zeit. Ich wurde als Copilot ausgewählt, weil ich alle Tests mit Bestnote bestanden hatte. Aber die Wahrheit ist: Es waren nicht mehr all zu viele Astronauten am Leben. Ich hätte auch nein sagen können, aber ich mache das für dich und alle anderen. Es ist das Einzige, das ich tun kann. Der Hinflug dauert etwa neun Monate, für die Suche sind vier Wochen eingeplant. Unterwegs kann viel passieren, deswegen wurde uns geraten, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Aber ich möchte nicht, dass du ihn als solchen verstehst. Nimm ihn als Wegweiser, konzentriere dich auf das Gute in den Menschen, versuche mit gutem Vorbild voranzugehen. Damit würdest du mir die größte Ehre erweisen.

Eines fernen Tages, wenn du diesen Brief liest, dann bin ich nicht zurückgekommen. Ich hoffe, du wirst verstehen, warum ich gegangen bin. Und ich hoffe, du kannst mir verzeihen, weil ich dich verlassen habe. Aber noch mehr hoffe ich, dass ihr noch da seid, wenn wir zurückkehren.

In Liebe, Dad

Lieutenant Stephen Hofring

U.S. Air Force

23.01.2054

Zurück

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Marion Schreiner

    Musste ich erst sacken lassen. Beängstigend realistisch und wieder mal sehr gut geschrieben.

    1. marco

      Danke, Marion. Eine meiner persönlichen Lieblingsgeschichten. Generell mag ich die Briefform sehr gerne.

Schreibe einen Kommentar