Generationen – die Zeit der Nachkriegskinder

Oktober 2020. Fortsetzung vom September – diesmal als Science-Fiction


„Mutti, das klingt doch großartig. Dieses Haus hat Tradition, die wissen, was sie tun. Die kümmern sich bestimmt gut um dich.“ Dann doppeltippte Daniela an ihre Schläfe und sagte „Anruf: Elsbeth Schell Residenzen.“
Etwa zwei Wochen später waren alle Formalitäten erledigt und durch des Glückes schicksalhaften Verlauf eine Bewohnerin mit jungen 128 Jahren verstorben. Für die Angehörigen war es nie einfach, aber 128?


Daniela fühlte Dankbarkeit auf der einen Seite, aber ihr gruselte auch davor, selbst einmal so jung zu sterben. Durch die Gentechnik hatte die Wissenschaft in den vergangenen 150 Jahren atemberaubende Fortschritte erzielt. Ein Alter von 150 Jahren war heute, 2170 keine Seltenheit mehr. Seit sich 2051 die umstrittene These über den Energieumsatz als wahr herausgestellt hatte, schossen immer mehr Forschungseinrichtungen in die Höhe, als wäre die Schwerkraft nur ein Gerücht. Der Jungbrunnen, ewiges Leben. Plötzlich war das wichtiger als die Erkundung des eigenen Sonnensystems, sogar wichtiger als Gold.

Die Forscher konnten beweisen, dass jedes Lebewesen von Geburt bis zum Tod nur eine bestimmte Menge Energie umzusetzen imstande war, begrenzt durch biologische Mechanismen. Je schneller sie umgesetzt wurde, umso früher fehlten dem Körper die Mittel. Goldgräberstimmung breitete sich aus wie die Detonation einer Kernwaffe, auf der Suche nach einer Möglichkeit, diese Grenze zu verschieben, und die Werte der Gesellschaft zerbrachen fast über Nacht. Ein jeder beanspruchte das Land zum Bauen, bis nichts mehr übrig war. Nur für die Bauern gab es Ausnahmen. Die Slums überall auf der Welt wurden mit einer nie da gewesenen Brutalität plattgewalzt wie bröckelnde Ruinen einer längst vergangenen Epoche. Aber danach blickte sich jedes Land nach links und rechts um und am Ende gab es Krieg. Die vereinigte Weltregierung, eine weltweite Militärdiktatur, die 2068 aus dem dritten Weltkrieg hervorgegangen war, hatte das Gleichgewicht der Dinge endgültig umgeworfen wie einen nassen Sack voll Mehl. Und dabei ging es im Krieg tatsächlich nur um eines: Land.

Die Armen wurden gnadenlos vertrieben und entsorgt. Am Ende schienen die Kontinente fast wieder wie am Anfang, als Pangäa: vereint. Nur eben nicht geografisch, sondern herrschaftlich. Denn über allem thronten die Militärs mit ihrer hoch selbst auserkorenen Kernaufgabe, die weltweiten Forschungseinrichtungen zu beschützen. Nicht dass sie noch viel Schutz gebraucht hätten, der Mob war bereits entsorgt worden. Aber darauf ankommen lassen wollten sie es auch nicht. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder kleinere Aufstände von sich im Untergrund zusammenraufenden Gruppen. Überwiegend Menschen, die ihre Arbeit verloren oder krank geworden waren. Burn-out, keine Seltenheit. Genetische Inkompatibilität, kam vor.

Diese Gruppen existierten nicht lange, wurden ausgemerzt aus der Geschichte wie lästige Trauermücken einer Zimmerpflanze. Forschung über alles. Leben über alles. Geld über alles.
Nur wer aus gutem Hause stammte, hatte eine Chance. So wie Danielas Urahnen. Ihr Vater war Forscher bei Aviotech, ihre Mutter dort Sekretärin. Sie selbst hatte ebenfalls wie ihr Vater Biologie studiert und den Master in Genetik gemacht. Danach bekam sie eine Stelle, durch etwas väterliche Unterstützung, versteht sich.

Mit einem Seufzen betrachtete Daniela ihre 130-jährige Mutter im schwebenden Rollstuhl sitzen. „Mutti, ich komme dich besuchen, versprochen.“ Dann gab sie ihr zum Abschied einen Kuss und verließ die Residenz. Ein Doppeltippen an ihre Schläfe: „Anruf: Papa.“

Als niemand antwortete, stieg sie in ihr Hovermobil, bestimmte den Zielort und das Gefährt glitt elegant hinauf auf die Aerobahn. Nach einiger Zeit des Fluges kam Neu-Nürnberg in Sicht und der bereits etwas in die Jahre gekommene Avioglide setzte gemächlich zur Landung entlang der schwebenden Markierungen an.

Mit müdem Blick streifte sie durch den Garten des Grundstücks, in dessen Haus sie aufgewachsen war. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts: gepflegt wie immer. Der Florabot leistete noch immer ganze Arbeit. Selbst nach 28 Jahren. Ein leises Seufzen entwich ihrem Mund, als sich die Haustüre nach dem Irisscan automatisch öffnete und eine weiche Stimme in angenehm ruhigen Ton säuselte „Willkommen, Daniela.“

„Papa, ich bin da.“
Im Wohnzimmer ruhte der matte Körper des greisen Mannes in einem eleganten Sessel, der etwa 30 cm über dem Boden schwebte. Auf der Rücklehne glänzte Recaro AeroLex. Das kleine Kästchen auf dem Wohnzimmertisch zeichnete brillant und hochauflösend ein Konzert auf die spiegelglatte Oberfläche der TV-Wand. Es war eine Aufzeichnung von Beethovens 9. Symphonie des West-Eastern Divan Orchesters unter der Leitung von Ismael Barenboim.

Ein leises Seufzen, ein Doppeltippen, gefolgt von „Google-TV: aus.“

Der alte Mann zog überrascht seine Augenbrauen nach oben, kramte die Dolby Surround 19.1 Funkkopfhörer von seinem grauen Haar und drehte den Kopf nach rechts. „Was ist?“, krächzte er reichlich schnoddrig.

„Papa, ich habe angerufen.“

„Du siehst doch, ich war beschäftigt“, fauchte der alte Mann zurück. Dann fügte er verärgert hinzu „Ich habe dir schon oft genug gesagt, du sollst dieses Ding nicht benutzen. Es quirlt deinen Verstand wie Omas Rührgerät den Quarkteig.“

Ein erneutes Seufzen. Daniela nahm auf dem anderen Sessel Platz und sah ihren Vater etwas mitleidig an.

„Papa, Google God ist moderne Technik, ich kann damit Fernsehen, Radio hören, telefonieren und alles Mögliche steuern.“

Ein verächtliches „Ts“, verließ des Alten Lippen, und er zeterte „Aber zu welchem Preis Kind, zu welchem Preis.“

Einen Moment betrachteten sie einander, dann fuhr er fort „Früher, als die Autos noch Räder hatten und auf den Straßen fuhren, sah man diese Bewegung immer mal wieder. Es war ein Zeichen, um dem anderen mitzuteilen, dass er vermutlich nicht mehr ganz richtig ist. Zugegeben, vielleicht war es nicht ganz höflich, aber Stand der Dinge. Es war ein Zeichen, deinem Gegenüber zu sagen, er ist ein Trottel! Heute, wenn ich durch die Straßen in der Innenstadt gleite, sehe ich andauernd diese Leute, wie sie sich immer und immer wieder beständig wie die Gesetze von Ebbe und Flut an ihre Schläfen tippen. Und weißt du was? Ich habe den Eindruck, die ganze Welt besteht nur noch aus Trotteln.“
Sein überaus faltiges Gesicht verzog sich zu einem unwirklich wirkendem, fast kindlichem Schmollen und Daniela spürte Mitleid aufsteigen. Sie verstand ihn, kannte seine Meinung. Diese neue Technik gab es erst seit etwa 30 Jahren, für ihn mit seinen nun bereits 133 schwer zu verstehen. Aber mit dem Durchbruch der Fusionsoperation wurden diese Eingriffe alltäglich wie Schallduschen. Dieses sehr kleine Stück Technik ließ sich einfach in den Schädel integrieren, fast als würden Knochen und Gewebe zur Seite rücken, um Platz zu schaffen, für etwas Neues, für ein Upgrade. Und der nötige Strom wurde durch die Körperwärme erzeugt, ein Meisterwerk der Technik. Ein Kunstwerk von Aviotech. Denn Aviotech entstand nach dem Krieg aus den Resten von Google, Microsoft und anderen Hightechfirmen. Ein einziger, riesiger, globaler, weltumspannender und alles unter Kontrolle haltender Muli-Trilliarden-Dollar-Konzern unter der Führung der vereinigten Weltregierung, des Militärs.
Die Tragik am Ende: Die Gründe, die einst zum Krieg führten, spielten hinterher keine Rolle mehr. Von den vielen Forschungszentren überlebten so manche nicht die Schlacht. Der Rest fusionierte nach und nach zu Aviotech, natürliche Konsolidierung, erzwungen durch harte Hand. Land gab es danach im Übermaß: verdorrtes, verbranntes, verseuchtes und mit Ruinen gespickt auf viele Dekaden hin unbrauchbares Land. All die Kinder aus der Nachkriegszeit, die nicht verstanden hatten, was da über sie gekommen war, schworen sich, so etwas sollte nie wieder geschehen. Und tatsächlich erschufen die nachfolgenden Generationen mühsam eine bessere Welt, eine sozialere und gerechtere Welt.
„Ich habe Mutti in die Residenz gebracht, es ist schön dort. Die Atmosphäre wirkt angenehm und sie bieten alles, was man braucht“, versuchte Daniela ihren Vater zum Umdenken zu bewegen.

Doch der alte Mann schüttelte nur leicht den Kopf und starrte auf das glatte Weiß der Wand.

„Ihr könntet zusammen in einer Suite leben“, probierte sie es erneut.

„Zuhause ist Zuhause und so wird es immer bleiben. Und für alles andere gibt es Bots“, wiegelte der Alte mit einer fahrigen Handbewegung ab, die signalisierte, nun war es genug.

Just in dem Moment seiner Worte hörte Daniela eine eingehende Nachricht in ihrem Ohr: „Bitte beachten Sie das ausstehende Update wird nun eingespielt. Die Übergangsfrist ist abgelaufen.“

Schlagartig sackte der Körper im Sessel zusammen wie von des Todes kalter Hand gestreichelt. Die Augen halb offen, die Zunge leicht im linken Mundwinkel lag sie einfach da und regte sich nicht, während das Update durch ratterte. Sie wirkte wie eine ungeliebte, liegengelassene Puppe.

Der Alte betrachtete sie mürrisch, schüttelte den Kopf und grummelte „Quarkteig.“ Dann fummelte er die Kopfhörer über sein dünnes Haar und genoss das klassische Konzert.

Die Sonderaufführung 100 Jahre nach Kriegsende stand unter dem Motto: Vive le progrès.

Es lebe der Fortschritt.

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