Ein Drama aus einer besonderen Perspektive. Stellen Sie sich vor, Sie lesen die Themen von Schreibaufgaben und überlegen sich, was Ihnen dazu einfällt. Was würden Sie zu den vorgegebenen Themen schreiben?
Ich war neunzehn. Hm, was fällt mir dazu ein? Ich sitze gerade hier an meinem Schreibtisch und überlege, was mir zu dieser Schreibaufgabe einfällt. Dabei musste ich an dich denken. Du weißt, dass ich manchmal bei diesem Onlineforum reinschaue und überlege, was mir zu den Themen einfällt, oder? Ich glaube, ich habe dir davon erzählt. Mitgemacht habe ich noch nie, so kunstfertig kann ich die Worte nicht aneinanderreihen. Es ist eher ein Hobby, meine Gedanken zu den Themen in Worte zu fassen. Was mir zu diesem Thema einfällt, ist etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Verblasste Gefühle, die ich nicht vermisst habe. Gefühle, die ich am liebsten nie erlebt hätte. Dabei war der Ursprung einst Hoffnung. Ich will versuchen aufzuschreiben, was ich dir bisher nie sagen konnte.
Wie fühlt es sich an, wenn du auf dem Gang auf und ab läufst und nicht weißt, wann es so weit ist? Wenn du spürst, wie alle Zellen deines Körpers vibrieren und dir wieder und wieder sagen: ‚Heute ändert sich dein Leben grundlegend. Für immer!‘ Wenn du es kaum erwarten kannst, Teil dieser Veränderung zu werden. Wenn du so nervös bist, dass du nicht nur an den Nägeln knabberst, sondern hinterher, wenn nichts mehr da ist, einen Schokoriegel nach dem anderen aus dem Automaten ziehst, weil du es bald nicht mehr erträgst. Wenn du dann zum Waschraum sprintest, weil das Übermaß an Süßkram auf demselben Weg raus will, wie es reinkam. Und wenn du auf den Knien kauernd an nichts anderes denken kannst als daran, dass du hoffentlich schnell genug zurück bist.
Wie fühlt es sich an, wenn plötzlich eine ganze Kolonne an dir vorbeischießt, dich aus dem Weg schiebt mit den Worten „Weg da!“ Wenn du hinterher mit offenem Mund auf dem Gang stehst und dir zwei in die Höhe gehobene Hände signalisieren, dass du hier keinen Zutritt hast.
Wie fühlt es sich an? Ich überlege die ganze Zeit, wie ich das beschreiben soll, was ich damals spürte. Wenn du auf dem Gang stehst und dir gesagt wird, dass es schlecht aussieht. Dass es dauern wird und du schon was-weiß-ich-wie-viele Stunden auf den Beinen bist. Wenn das Adrenalin durch deinen Körper jagt und du das Gefühl hast, alle Energie der Welt zu haben, alle Gebirge versetzen zu können und alles möglich machen könntest, bis auf das eine, das in diesem Moment aber ALLES bedeutet.
Wie fühlt sich dieses kleine Stückchen ungenügend an, das sich mitten unter dieses Gefühl von Allmacht schiebt, das ausgelöst durch Adrenalin und vielleicht sogar Panik deinen ganzen Körper durchsättigt? Wenn du den Schweiß unter den Achseln spürst, dich nicht hinsetzen kannst, rastlos auf und ab läufst und nicht weißt, wohin mit dieser Energie, die eigentlich alles möglich machen könnte, in dem Moment aber völlig nutzlos durch deinen Körper jagt. Die Gedanken gehen in alle Richtungen. Du überlegst, an wen du dich wenden könntest, von welchen Spezialisten du irgendwann mal irgendwo gelesen hast. Die Gedanken rasen, prüfen und gegenprüfen immer und immer wieder die möglichen und unmöglichen Möglichkeiten, alles was dir einfällt.
Wie fühlt es sich an, wenn sich nach langer Zeit die Tür öffnet und eine Frau herauskommt, verharrt, und dich ansieht? Wenn ihre Augen keinen Rückschluss zulassen, weil sie längst gelernt haben Distanz zu wahren, du aber durch die Körpersprache, dieses kurze Verharren, bevor sie auf dich zukommt, spürst, dass beides nicht zusammenpasst? Dass irgendetwas nicht stimmt? Wenn du Worte hörst, die dich auf die Knie sinken lassen, weil du immer gedacht hast, das passiert nur anderen. Und wenn dein Geist währenddessen nach dieser einen Sünde sucht, die du begangen hast und die das begründen kann, was dir an jenem Tag vom Schicksal zugesprochen wurde. Wenn du das Gefühl hast, die Hölle würde sich öffnen und dich alsbald verschlingen, weil du spürst, in jeder Ecke deines Körpers: Heute ändert sich dein Leben grundlegend. Für immer!
Wie fühlt es sich an, wenn du auf dem Boden kauerst, weinend, und plötzlich diesen Schrei hörst. Dieser Schrei! Er ändert alles! Dieser Schrei lässt dich aufhorchen, er lässt dich aufstehen und nachsehen. Er lässt dich nicht los, er zerrt an dir, ruft dich nicht, sondern er packt dich und zieht dich geradewegs zu sich. Dieser eine Schrei, der nicht mehr, aber auch nicht weniger verlangt, als: Hilf mir!
Wie fühlt es sich an, wenn du vor diesem Bündel stehst, es ansiehst, die Schreie hörst und nicht verstehst, was hier gerade passiert? Wenn du glaubst, das alles wäre ein Albtraum und jeden Moment kommt jemand, der dich aufweckt. Wenn du zum ersten Mal den Geruch wahrnimmst, die feine, verletzliche Haut spürst, das erste Mal die Augen und ihre Farbe siehst. Wenn du irgendwo tief in dir begreifst, dass die Natur nun ihren Tribut dafür fordert, dass sie dir ein Leben geschenkt hat. Wenn sie dir ins Ohr flüstert: „Jetzt bist du dran. Mach was draus!“ Und wenn du dastehst und nicht weißt, ob das ein Wunder oder ein Alptraum ist.
Wie fühlt es sich an, Selina? Ich tue mir schwer, diese Gefühle von damals in Worte zu fassen und ich weiß auch nicht, ob das, was ich dir schreibe, wichtig für dich ist oder jemals sein wird. Ich weiß auch nicht, ob ich dir diesen Brief jemals geben werde. Damals war ich neunzehn. Heute bist du neunzehn und ausgerechnet dieses Jahr lautet eines der Themen ’Ich war neunzehn’. Ist es das Schicksal, das mich foppen will? Ist es ein Wink für mich, dass ich irgendetwas tun soll? Ist es Vorhersehung? Ich kann das nicht beantworten. Ich kann nur sagen, dass plötzlich alles wieder hochkommt.
Wie ich dich mit nach Hause genommen habe und nicht wusste, was ich tun soll. Wie oft ich insgeheim gedacht habe, es wäre besser gewesen, wenn es mich erwischt hätte. Ich war so überzeugt, dass deine Mutter genau gewusst hätte, was zu tun wäre. Wie fühlt es sich an, wenn du plötzlich eine Verantwortung auf den Schultern trägst, der du dich nicht gewachsen fühlst? Wenn auf einmal jemand da ist, ein Leben, um das du dich kümmern musst und du nicht weißt, ob du es schaffen kannst? Wenn all die Hoffnungen, Pläne, die zwei Menschen erträumt, erdacht oder aufgestellt haben, vom Leben zerrissen werden wie eine unbezahlte Rechnung? Also, wie fühlt es sich an, Selina?
Es ist die Angst, die mich all die Jahre geleitet hat. Die Angst, etwas zu tun oder zu unterlassen, das dir schadet. Es ist die Angst, nicht genug Kraft zu haben, um arbeiten zu gehen, und danach für dich da zu sein. Angst davor, kein guter Vater zu sein. Es ist die Angst, du könntest dir irgendeine Krankheit einfangen und ich merke es nicht rechtzeitig. Angst, eine Impfung zu vergessen, oder dass du nicht warm genug eingepackt im Kinderwagen liegst. Ich hatte so viel Angst all die Jahre, ich könnte dich auch noch verlieren! Ich war immer so unsicher bei dir, traute mich anfangs nicht mal, dich auf meinen Arm zu nehmen.
Ohne deine Großeltern hätte ich es nicht geschafft, sie standen mir immer zur Seite. Sie haben mir alles gezeigt und beigebracht. Na ja, fast alles. Das Fahrradfahren habe ich dir beigebracht, weißt du noch? Ich muss schmunzeln. Du hast sofort angefangen zu schreien, wenn ich von deiner Seite gewichen bin, weil du Angst hattest, umzufallen. Ich erinnere mich an deine Einschulung, wie du mit deiner Schultüte auf dem Hof standest und dir Tränen über die Wangen flossen. Wie ich gebangt habe, jeden Tag, dass dir auf dem Weg nach Hause nichts passiert. Mit 14 wolltest du nur noch vegetarisch essen. Gott, habe ich mir Sorgen gemacht, dass du vom Fleisch fällst. All die Sorgen über die Jahre.
Nun bist du groß und irgendwie haben wir es tatsächlich hinbekommen. Ich wünschte, deine Mutter könnte dich heute sehen. Sie wäre so stolz auf dich, weil du dein Abi geschafft hast und sie wäre stolz, weil du immer schon Biologie studieren wolltest und es jetzt wirklich tust. Ich hab sie so vermisst, ich habe so viel geweint. Jeden Tag habe ich geweint, wenn du geschlafen hast, weil ich nicht mehr wusste, was ich noch tun soll.
Das ist es, was mir zu ‚Ich war neunzehn‘ eingefallen ist. Das ist meine Geschichte, unsere Geschichte, die ich dir in diesen Brief schreibe. Vielleicht bekommst du ihn irgendwann. Vielleicht ist es auch nur den Umständen geschuldet und das Schreiben war ein Stück Therapie für mich, denn nun ist die Zeit da, dich loszulassen. Und ich habe furchtbare Angst davor. In Kürze startet dein erstes Semester und du packst bereits für deinen Umzug nach Heidelberg. Ich freue mich für dich, dass du den Studienplatz bekommen hast. Aber was werde ich nur ohne dich machen? Es wird so fremd sein nach all den Jahren, so leer. Weißt du, ich hab es dir nie gesagt, aber du hast dieselben Augen wie sie und dieselbe Wesensart. Wenn ich dich ansehe, ist es fast, als wäre sie noch immer da. Bitte pass auf dich auf, hörst du? Ich liebe dich, mein Engel. Ich liebe dich über alles und bin mächtig stolz auf dich.
Dein Papa.
P.S.: Ich habe entschieden, später noch auf den Friedhof zu gehen. Ich konnte es lange nicht, doch nun denke ich, es wird Zeit, sie zu besuchen. Deine Mutter mochte die Gerbera immer so gerne, ich werde einen großen Strauß mitbringen. Und im Herzen hoffe ich, dass sie auch deiner Zwillingsschwester gefallen hätten.
Sehr berührend und grandios geschrieben.
Danke, Marion.