Mille grazie! – April 2023

Eine Kurzgeschichte mit fantastischen Zügen und mehreren subtilen Botschaften zum Thema: „Schreibe eine Geschichte zu diesem Bild.“

Vier Schaufensterpuppen im Teich als Thema der Kurzgeschichte Mille grazie!
Foto: Pxhere.com

Es ist Donnerstagnachmittag, 16:55 Uhr. Martin sitzt im Büro und starrt auf seinen Bildschirm. Er soll ein neues Layout für den Quartalsbericht der Buchhaltung gestalten. Zu unübersichtlich. Er sieht die Zeilen und Spalten, es fällt ihm überhaupt nichts ein. Müdigkeit hängt schwer in seinen Knochen, wenig Schlaf schon seit Wochen. Dazu noch diese Tristesse. War das schon alles im Leben?Wie hat Vater immer gesagt:Junge, lern was Gescheites, damit du was wirst.Gähn.

»Feierabend, Kollege, gehen wir ein Bier trinken?« Thomas sieht zu Martin.

»Äh, nein, geht nicht, meine Susi ist doch schwanger, sie kotzt den ganzen Tag, ich muss zu ihr.« Martin verzieht das Gesicht dabei, nimmt seinen Rucksack.

»Gerade deswegen, du brauchst ne Pause, nich nur arbeiten und dann heim, komm schon.«

»Thomas, wirklich, sie vierteilt mich, wenn ich nicht komme, nach der Geburt, ok?«

»Junge, steckst du unterm Pantoffel«, sagt Michael, zwinkert und fügt an: »Na dann viel Spaß.«

Seufzend lässt Martin den Kopf auf die Brust fallen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Familie, Kinder. Kleine wissbegierige und immer neugierige Gremlins, die überall Chaos verursachen. Ok, darauf hatte er sich eingestellt. Aber Susi mit Bauch = Smaug gekreuzt mit Alf.

Schlurfend geht er den Weg zu seinem Auto, in Gedanken spürt er den sanften Wind von Mauritius im Haar. Die hübschen Bikinibeine am Strand, das ruhige Branden der Gezeiten. Friedliches Gelächter und sonst behaglich Stille. Einen Moment bleibt er stehen, schließt die Augen, genießt die Vollkommenheit. Quietschende Reifen am Strand? Schon spürt er den Aufprall. Erst an den Beinen, dann am Schädel. Langsam öffnet er die Augen, warum ist alles vertikal? Die warme Motorhaube fühlt sich falsch am Mund an, denkt er, dann wird es dunkel.

Als Martin aufwacht und langsam die Augen öffnet, spürt er ein vertrautes Gefühl unter den Händen. Entfernt kann er das gleichmäßige Rauschen eines Wasserfalls hören. Ein bekanntes Summen kreist um seinen Kopf. Instinktiv wedelt er mit seiner rechten Hand und verscheucht die Biene. Kopf, Beine, Brust, alles heil? Er richtet sich auf und blickt um sich. Eine weitläufige Wiese, ein paar knorrige Eichen, ein Bächlein, das unbeirrt seinem Lauf folgt. Martin atmet tief ein, schaut auf seine Hände, atmet aus. Wo bin ich hier?

Erst jetzt sieht er den Igel, der nicht weit von seinem rechten Fuß entfernt sitzt und ihn ansieht.Dann bemerkt er den Grashüpfer. Er ist so grün wie das Gras, nur die kleinen, schwarzen Augen verraten ihn. Ein Eichhörnchen springt herbei, verharrt kurz und setzt sich zu den dreien. Neugierig blickt es zu Martin, kratzt sich kurz mit dem Hinterbein, sieht wieder zu ihm. Ein Rotkehlchen flattert herbei, komplettiert das Quartett. Alle vier betrachten Martin, der sich über die Augen reibt. Dann sieht er sich an. Blaue Jeans, braune Sneaker, weißes T-Shirt, blaukariertes Hemd. Alles heil.

»Keine Sorge, dir ist nichts geschehen«, brummt der Igel mit tiefer Stimme. Irritiert betrachtet Martin den stacheligen Besucher. Wie war das in Physik mit Resonanzkörpern?

»Vergiss das Gelernte, es ist nicht wichtig«, sagt das Eichhörnchen mit fiepender Stimme.

»Wer seid ihr?«, bringt Martin hervor, verwundert über sich selbst. Es sind Tiere. Was denkst du denn?

»Wir sind Mutters Helfer, sie braucht dich!«, erklärt das Rotkehlchen mit zwitschernder Stimme.

»Mutters …?« Martin hebt beide Hände leicht. Langsam wird ihm komisch. Der Igel deutet einmal in jede Richtung. Martin kneift die Augen zusammen, sieht den Igel argwöhnisch an.

Der seufzt, schüttelt den Kopf und brummt: »Junge, Junge, das wird ein Spaß.«

»Nun gib ihm doch Zeit, er ist das erste Mal im Limbus«, sagt das Eichhörnchen. Es sieht sich kurz um und fügt hinzu: »Du bist im Limbus, einer Zwischenwelt. Im Zoo würde man sagen, es ist der Bereich zwischen Affe und Besucher. Dort, wo die administrativen Aufgaben erledigt werden.«

»Hohoho, Affe und Besucher, der war gut!« Der Igel kugelt sich auf der Wiese vor Lachen.

»Der Bereich zwischen Außengehege und Innengehege, das passt besser«, erklärt das Rotkehlchen.

»Häh?« Martin kratzt sich am Kopf, blickt sich um. Das muss ein Traum sein. Liege ich im Koma?

»Un albero che non è piantato non può germogliare*”, sagt der Grashüpfer. Doch er sieht nur Verwirrung in Martins Augen.

»Er versteht die Sprache nicht«, bemerkt der Igel. Daher erklärt er: »Nein, du liegst auf einer Motorhaube. Mutter hat dich zu sich gerufen, weil du noch etwas zu erledigen hast. Während du hier bist, steht die Zeit in deiner Welt still.«

Der Grashüpfer sieht die Verwirrung in Martins Augen und fügt hinzu: »Ok, sie steht nicht komplett still, aber sie vergeht sehr viel langsamer, sonst würden wir gar nicht hinterherkommen, die Schäden der Menschen zu reparieren.«

»Wir kommen nicht hinterher!«, bemerkt der Igel und verschränkt demonstrativ seine Arme vor der Brust.

»Das liegt an der Zeitverschiebung. Während wir uns hier abhetzen, sieht es in der Menschenwelt so aus, als würden alle chemischen Prozesse langsam geschehen. Deswegen können uns die Menschen nicht sehen, wenn wir ihre Welt betreten. Nur manchmal, wenn wir eine Pause machen, beobachten und stillstehen, können sie uns erkennen. Aber dann sehen wir aus wie leblose Gegenstände«, fiept das Eichhörnchen und tippt nervös auf sein Handgelenk.

»Ja, schon gut.« Der Igel stellt sich auf seine Hinterbeine und erklärt: »Du musst uns helfen, Martin. Siehst du den Bach? Das ist der Fluss der Kreativität. Sieh, da vorne.«

Martins Blick folgt der Pfote des Igels. Der Bach staut sich an einer Stelle. Beim Näherkommen erkennt Martin allerlei Kram und Gerümpel, das sich zu einer Blockade aufgestaut hat. »Wieso Fluss? Das ist doch ein Bach.«

»Dieser Bach IST der Fluss der Kreativität. Weil er aufgestaut ist, tröpfelt sie nur noch zu den Menschen. Sie langweilen sich, spielen Videospiele, sehen fern und ein paar führen sogar Kriege deswegen. Hilf uns bitte, wir brauchen unbedingt Zeit.«

Martin versteht nicht wirklich, aber nach einigen Minuten hat er es geschafft und das Wasser fließt wieder ganz normal.

»Danke Martin, du warst uns eine große Hilfe. All diese Gegenstände stammen von den Menschen, es ist die Angst vor ihrer eigenen Courage, die sich hier materialisiert.« Die vier winken zum Abschied. Noch bevor Martin Fragen stellen kann, erwacht er auf der Motorhaube.

Nach drei Tagen im Krankenhaus darf er gehen, leichte Prellungen und ein paar Blutergüsse erinnern ihn an die alte Frau, die Bremse mit Gas verwechselt hatte. Die vielen Blumen und Entschuldigungen haben ihm bei der Genesung geholfen. Aber in seinem Hinterkopf ist noch immer die Erinnerung an diesen Traum, leicht verblasst, dennoch irgendwie deutlich.

Er beginnt zu malen, erst seine schwangere Frau Susi, später sie und das Kind. Dann Blumen und Bäume, Landschaften und Häuser. Wie von Zauberhand gelingen ihm Bilder, die in Struktur und Ausdruck die Kernelemente jedes Motivs auf eine Weise einfangen, die jeden Betrachter begeistert. Martin versucht sich am Töpfern, er feilt Specksteine, bildhauert und spielt Gitarre. Bald schon unterrichtet er in seiner Freizeit Jugendliche, wenig später gibt er hauptberuflich Kurse für alle Jahrgangsstufen. Er stellt Videos auf Youtube, schreibt Artikel für Webportale.

Seine Fähigkeiten wachsen ebenso schnell wie sein Ruf. Er wandelt sich innerhalb von zwei Jahren von einem Geheimtipp zum Meister der Kreativität. Und viele andere folgen seinem Beispiel. Der Bürgermeister der Stadt ruft einen Wettbewerb aus. Unter dem Motto »Kunst statt Krempel« fordert er seine Bürger auf, alles Alte zu Kunstwerken zu formen, statt es wegzuwerfen. Senioren ausgenommen. Überall auf den Straßen sieht man Skulpturen und künstlerische Gebilde. Ein neues Gefühl für Rohstoffe entwickelt sich, reparieren heißt die Devise. Immer weniger Menschen kaufen Dinge, die sie gar nicht brauchen. Kinder lernen von klein auf, was Ressource bedeutet.

Selbst der ehemalige Löschteich der Feuerwache bleibt nicht verschont. Als Martin irgendwann spazieren geht, sieht er das kreativ gestaltete Arrangement, schnappt sein Smartphone und macht dieses Bild. Er lädt es zu Facebook hoch und das Foto verteilt sich schnell über die ganze Welt. Nach dem Upload setzt sich Martin auf eine Bank am Teich und genießt das Kunstwerk.

Hübsch sehen sie aus, die vier Puppen im Wasser. Mit ihren Schwimmbrillen, den Badekappen aus italienischer Produktion und dem Tisch mit allerlei Dingen, die aus Freizeit Partyzeit machen möchten. Ein Schmunzeln breitet sich in seinem Gesicht aus. Wer hätte das gedacht? Ob Vater im Himmel jetzt lacht? Er schüttelt den Kopf, nur um ganz sicher zu gehen. Nicht, dass sich noch was ändert. Vielleicht ein steckengebliebenes Rädchen in Gang setzen, um den Prozess des Werdens doch noch zu revidieren. Noch einmal schüttelt er den Kopf, ein bewundernd angehauchtes »Ts« verlässt seine Lippen. Na gut, denkt er. Ihr habt es so gewollt. Es ist ein Anfang. Er winkt ihnen beim Gehen. Ciao, belle.

Und mille grazie!

(* italienisch: Ein Baum, der nicht gepflanzt wird, kann nicht sprießen.)

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

    1. marco

      Vielen Dank, liebe Marion.

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