Glaube und Vertrauen – August 2023

Eine mysteriöse Kurzgeschichte mit überraschender Auflösung zum Thema „Dumm gelaufen“, die in meinem Heimatort Tennenlohe spielt.

November

Freitag, 14:17 Uhr. Friedhof Tennenlohe. Etwa 25 Personen haben sich versammelt. Die meisten hüllen sich in schwarze Jacken oder Mäntel. Die Bäume auf dem kleinen Gelände haben längst schon den Lauf der Zeit akzeptiert. Blätter liegen rot-gelb verfärbt überall, bedecken Gräber und Boden unter sich wie eine Erinnerung der Natur an die Vergänglichkeit allen Seins.

Der 8-jährige Jonas steht stumm neben seinem Vater und sieht zu, wie der Sarg langsam ins Grab gelassen wird. Seine Augen sind feucht und eigenartig ausdruckslos. Es scheint fast, als wäre er nicht wirklich hier.

Dezember

Jonas sitzt im Wohnzimmer und starrt auf den grünen Nadelbaum, der mit roten Kugeln und Strohsternen geschmückt ist. Die Kerzen auf seinen Zweigen leuchten hell und hüllen den ganzen Raum in ein andächtiges und vertrautes Licht, das immer schon Zeugnis für eine ganz besondere Zeit des Jahres war. Doch Jonas lächelt nicht. Es scheint, als würde er warten. In seinem Kopf erklingen Melodien, Akkorde und Gesang. Er kann deutlich die Gitarre hören, wie sie einst klang, und die Stimme, die in lieblichem Ton »Oh, du fröhliche« gesungen hatte. Doch etwas fehlt. Jonas dreht den Kopf und sieht sich um. Er kann die Gitarre nicht sehen. Und auch die Person fehlt, die sie einst spielte. Seine Augen sind leicht feucht und eigenartig ausdruckslos. Es scheint fast, als wäre er nicht hier.

Januar

Jonas steht am Grab und starrt auf den grauen Grabstein. Sein Fahrrad hat er achtlos auf den Rasen gelegt. Er sieht die Buchstaben und Zahlen, aber versteht nicht, was sie bedeuten. Immer wieder fahren seine Augen über die Serifen. Er beobachtet, wie sie glänzen, wenn Sonnenstrahlen vereinzelt durch die Wolkendecke blinzeln. Er beugt sich leicht und berührt den Grabstein, fährt über die geschliffene Oberfläche. Seine Augen sind leicht feucht und eigenartig ausdruckslos. Es scheint fast, als wäre er nicht hier.

»Hallo Jonas.«

Langsam dreht Jonas den Kopf. Ein alter Mann mit grauem Bart hat sich neben ihn gestellt. Er lächelt gütig und faltet die Hände vor dem Bauch.

Jonas dreht den Kopf und betrachtet wieder diesen Stein, der ihm eigenartig unwirklich erscheint. Alles erscheint eigenartig unwirklich. Selbst sein Körper fühlt sich taub an.

»Warum bist du so traurig?«

Jonas dreht den Kopf und betrachtet den Mann. Eine blaue Jeans, braune Stiefel, eine Winterjacke. Er lächelt noch immer gütig, als wäre das Leben ein Quell unermesslicher Freude.

»Meine Mutter …« Jonas dreht den Kopf und starrt auf den Grabstein. Er kennt den Mann nicht und weiß nicht, was er sagen soll. Er hat das Gefühl, auf etwas zu warten. Doch er weiß nicht, auf was.

»War sie eine gute Mutter?«

Wieder dreht Jonas seinen Kopf und sieht den Mann an. Wie kann er nur so eine Frage stellen? Jonas nickt und dreht seinen Kopf zum Grabstein.

»Was würdest du tun, um sie wiederzusehen?«

Langsam dreht Jonas seinen Kopf und sieht den Mann an. Der lächelt eigenartig zuversichtlich, doch Jonas versteht nicht, was das zu bedeuten hat. Er betrachtet wieder diesen Stein vor sich. Diesen fiesen, kalten Stein, der wirkt, als wolle er ihm etwas sagen. Dieser Stein, der dort liegt, wo eigentlich jemand stehen sollte. Dieser Stein, der an einem Ort ist, wo Jonas gar nicht sein sollte.

»Weißt du, wo meine Mama ist?« Jonas sieht den Mann fragend an. Der nickt und lächelt gütig.

»Kannst du mich zu ihr bringen?« Wieder nickt der Mann und reicht Jonas seine Hand. Ohne zu überlegen, greift Jonas danach. Sie ist groß und warm. Seine kleine Hand passt fast dreimal hinein. Jonas sieht noch einmal zum Grabstein und spürt einen kurzen Schmerz. Erschrocken blickt er auf seinen Arm. Eine rote Fontäne pulsiert aus dem Handgelenk. Es wird kalt, sehr kalt. Jonas sieht den Mann an. Er verschwimmt langsam. Dann wird es dunkel.

Februar

Samstag, 16:15 Uhr. Friedhof Tennenlohe. Das halbe Dorf hat sich versammelt, um Abschied von Jonas Vater zu nehmen. Alle hüllen sich in schwarze Jacken oder Mäntel. Kaum einer kann glauben, was der arme Mann ertragen musste. Am Ende war es selbst für ihn zu viel. Das viele Laub ist längst weggeräumt, die Bäume auf dem Gelände ruhen während des strengen Winters. Der Boden ist frisch gerecht und die umliegenden Gräber sehen ausnahmslos gut gepflegt aus. Die 6-Jährige Marie sieht zu, wie der Sarg langsam in die Erde gelassen wird. Ihre Augen sind leicht feucht und ihr Blick eigenartig ausdruckslos. Es scheint fast, als wäre sie nicht hier.

März

Ein bärtiger, alter Mann läuft über den Friedhof und bleibt vor einem Grab stehen. Er faltet die Hände vor dem Bauch und betrachtet die Buchstaben und Zahlen auf dem grauen Grabstein. Fast scheint es, als würde er rechnen. Er wirkt konzentriert und sein Gesicht zeigt Falten der Besorgnis.

April

Marie spielt an einem Bach, der in der Nähe ihrer Pflegefamilie liegt. Sie sucht nach Fröschen und Kröten. Zwei hat sie schon gefangen. Als sie den dritten endlich gepackt hat, setzt sie alle drei nebeneinander und lässt sie loshüpfen. Einer nach dem anderen hüpfen sie los in Richtung Wasser. Gerade als der letzte in den Bach springen will, packt sie ihn und sticht mit einem dünnen Stock in seinen Leib. Sie betrachtet den Frosch, wie er strampelt und allmählich schwächer wird. Ihre Augen sind leicht feucht und ihr Blick eigenartig ausdruckslos. Es scheint fast, als wäre sie nicht hier.

Mai

Mittwoch, 13:16 Uhr. Friedhof Tennenlohe. Fast das ganze Dorf hat sich versammelt. Alle tragen Schwarz. Hinter der Sandsteinmauer, die den Friedhof umgibt, stehen Übertragungswagen. Journalisten machen sich bereit, einige der Menschen zu interviewen. Die Bäume auf dem Gelände stehen in voller Pracht und die Gräber sehen ausnahmslos gepflegt aus. Die Menge sieht zu, wie der Sarg langsam in die Erde gelassen wird. Keiner der Anwesenden mag sich vorstellen, wie es für die kleine Marie gewesen sein muss, doch alle sind froh, dass es nun endlich vorbei ist. Ein alter Mann mit grauem Bart steht etwas abseits und beobachtet die Zeremonie. Als die Menschen den Friedhof nach und nach verlassen, beginnt er, das Grab mit Erde zu füllen.

Juni

Die Medienlandschaft berichtet Land auf Land ab über das Unglück von Tennenlohe. Es hat etwas gedauert, bis die Journalisten alle Details zusammengetragen haben. Die kleine Marie war das letzte Mitglied der Familie Ruger, die letzte Überlebende der schicksalhaften Ereignisse. Mutter Ruger verstarb im November durch Suizid, ihr 8-jähriger Sohn Jonas tat es ihr im Januar gleich. Sein Vater folgte im Februar und seine Tochter Marie besiegelte das Schicksal der Familie im Mai auf die gleiche Weise. Alles vier starben ohne Fremdeinwirkung, hieß es. Die Menschen im Land sind fassungslos, werfen den Jungendämtern und Seelsorgern Versagen vor.

Juli

Ein lauter Knall weckt die Menschen in Tennenlohe aus ihrem Schlaf. Eilig hetzen sie zu den Fenstern und starren auf den großen Feuerball. Sirenen ertönen kurz darauf. Die Feuerwehr hat sämtliche Einsatzkräfte aus der Region mobilisiert. Es dauert den ganzen Tag und bis spät in die Nacht. Dann steht fest: Niemand hat den Absturz überlebt. Der Friedhof in Tennenlohe ist zu klein, er bietet nur noch 15 freie Plätze. Die restlichen Opfer werden auf umliegende Friedhöfe aufgeteilt oder in ihre Herkunftsstädte verbracht. Die Angehörigen der 15 einigen sich auf ein Sammelbegräbnis, um hinterher gemeinsam zu trauern. 14 Pfarrer aus umliegenden Gemeinden melden sich freiwillig zum größten Begräbnis in der Geschichte des Dorfes Tennenlohe.

Am Ende der 15 Zeremonien, die gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Friedhofs abgehalten wurden, sammeln sich die Menschen in Gruppen, um zu kondolieren, sich auszutauschen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Keiner kann glauben, dass ein lebensmüder Mensch ein Flugzeug steuern durfte. Ein alter Mann mit grauem Bart beginnt, eines der Gräber mit Erde zu füllen. Er wirkt zufrieden. Sein Gesicht zeichnet ein Lächeln und fast möchte er pfeifen bei seiner Arbeit.

In der Nacht betritt ein bärtiger, alter Mann den Friedhof und stellt sich vor ein Grab. Er hebt seine Hände, spricht unverständliche Worte. Alle Gräber beginnen hell zu leuchten und für einen Moment wirkt es, als würde sich die Erde zwischen den Grabumbauungen bewegen. Dann ist es vorbei. Die Gräber sind verschwunden. Es gibt wieder 19 freie Plätze.

August

Jonas spielt mit seiner Schwester Marie im Garten. Die Eltern der beiden sitzen auf der Terrasse und beobachten ihre Kinder. Sie sind glücklich, weil das Leben es gut mit ihnen meint. Einige Zeit später geht Jonas aus dem Garten auf den Bürgersteig. Ein Stück die Straße runter ist ein Kaugummiautomat. Als er die 10 Pfennige einwirft, hört er eine Stimme.

»Hallo Jonas.«

»Ha… hallo.«

»Bist du glücklich?«

»Ja?«, sagt Jonas etwas unsicher und sieht den Mann an. Er trägt eine blaue Jeans, ein weißes Hemd und einen grauen Bart im Gesicht. Jonas ist nicht sicher, ob er den Mann kennt, aber er wirkt vertraut. Das gütige Lächeln in seinem Gesicht wirkt vertrauenerweckend. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Oh, ich kenne alle Namen, mein Junge. Keine Sorge, wir sehen uns wieder.« Er zwinkert und läuft pfeifend davon, während Jonas ihm nachsieht.

Alle Pressemeldungen und Berichte über das Unglück der Familie Ruger haben niemals existiert. Kein Flugzeug ist jemals über Tennenlohe abgestürzt. Wiedereinmal hat Gott dem Teufel eine Lektion erteilt. Denn nur Gott entscheidet, wer lebt und wer stirbt.

*Gewidmet allen Christen. Glaube und vertraue.*

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Anonymous

    Sehr schön, eine angenehme, gruselige Geschichte mit überraschender Auflösung.

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