Auch Pferde wollen müssen dürfen

Eine etwas andere Kurzgeschichte über irdische Bedürfnisse zum Thema Tapetenwechsel.

Der Reiterhof Blumenwiese liegt eingebettet in einem Tal, das fast wie aus einer anderen Zeit wirkt. Von der Hauptstraße biegt der Besucher auf eine Schotterstraße ab, fährt vorbei an braun gestrichenen Koppelzäunen, die links und rechts Ausblick auf das große Areal erlauben, und stößt alsbald auf ein mächtiges Holztor, das meist offen steht. Bereits kurz vor Passieren des Eingangstores stechen die beiden Haupthäuser im amerikanischen Stil mit ihren Veranden und Schaukelstühlen ins Auge, sowie die vielen Stallungen, deren einst helles und stabiles Holz im Lauf der Zeit von der Natur sanft bearbeitet und nuanciert betont wurde.

Dem Besucher drängt sich nicht der Eindruck von Verfall auf, eher würdevolles Altern lässt ein Gefühl von harmonischer Idylle entstehen. Wenn dann jemand auf dem Hof erscheint, springt sogleich Emilia aus dem Haus und begrüßt alle mit ihrer erfrischend offenen und herzlichen Art. Der siebenjährige quirlige Lockenkopf ist die Tochter von Sabine und Hermann, die das Land und den Hof besitzen. Sabine gibt Reitunterricht speziell für Kinder. Emilia lief ihre ersten Schritte auf dem Hof und kennt jeden Winkel, jedes Pferd und jede Heuschrecke (glaubt sie.) Voller Elan führt sie die Besucher herum und erklärt ihnen alles, was sie wissen wollen. Dabei wirkt sie so selbstbewusst, als hätte sie nie etwas anderes getan. Mit ihren schulterlangen roten Locken, fein verteilten Sommersprossen und immer strahlend grünen Augen verzaubert sie die Gäste und schafft es so, die Idylle mit vertrauter Heimeligkeit einzufärben und zu einem Hort der Behaglichkeit werden zu lassen.

Die meisten ortsunkundigen Besucher sind zunächst überwältigt von der Lage des Anwesens und können kaum glauben, dass mitten in Franken so ein Ort existiert. So weit das Auge reicht, finden sich Wiesen, Wälder und Felder, die zur Erholung einladen und bis zum Walberla reichen, dem 537 Meter hohen Berg im fränkischen Hinterland. Doch spätestens, wenn Emilia sie herumführt, verliebt sich auch der eingefleischteste Städter in das kleine fränkische Paradies. Hier, inmitten dieser natürlichen Schönheit, haben sich Sabine und Hermann ihren Traum erfüllt.

Das Leben hat es gut mit ihnen gemeint, sie haben genug Schüler, kommen mit dem Leben hier draußen gut zurecht und sie lieben sich. Aber vor allem lieben sie ihre Tiere.

Vor etwa einem Monat jedoch stürzte der Hengst Benedikt so unglücklich, dass er eingeschläfert werden musste. Für Sabine und Emilia war es ein harter Schlag, Benedikt war aufgrund seiner Gutmütigkeit der Liebling aller Kinder gewesen. Besonders Emilia war am Boden zerstört und weinte bittere Tränen, hatte sie doch Benedikt als Fohlen aufwachsen sehen. Lange besprach sich Sabine mit ihrem Mann, bis klar war, sie würden einen neuen Hengst vom gleichen Züchter auswählen.

Einige Zeit später betrat Sascha das erste Mal den Hof.

»Emilia, schau doch, wer hier ist.«

Mit ungläubigen Augen stiefelt die Kleine schnellen Schrittes herbei, ihre Füße in vermatschten Gummistiefeln.

Ein paar Nüstern lugen aus dem Pferdeanhänger, dann folgt erst einer, dann der zweit Vorderfuß.

Nach einem letzten, aufmunternden »Na komm!« des Züchters steht der Hengst in voller Pracht vor Sabine und Emilia.

»Boah, ist der schön! Schau doch, das Fell, Mama!« Sogleich macht das Mädchen Anstalten, sich dem Pferd zu nähern, doch es scheut und der Züchter mahnt. »Langsam, junge Dame, er muß sich erstmal umsehen und orientieren. Gib ihm etwas Zeit.«

Emilia nickt leicht trotzig und bestaunt das sandfarbene Fell, die weiße Mähne, die starken Hinterbeine und die braunen Augen des neuen Hofbewohners.

Und tatsächlich, Sascha sieht sich neugierig um, atmet die Luft ein und wiehert ein paarmal in Richtung Emilia. Langsam senkt er den Kopf und sieht dabei direkt in ihre Augen.

Das Mädchen geht zu ihm, legt ihre Hand sanft auf seine Nüstern, während er ihren Geruch aufnimmt. Mit leuchtenden Augen blickt Emilia zu ihrer Mutter, dann streichelt sie Sascha über Nasenrücken und Jochbein. Der Hengst ist ganz ruhig, lässt das Mädchen gewähren. Beide gehen eine erste, zarte Bindung ein und Emilia strahlt über das ganze Gesicht.

Entsprechend frustrierend findet sie die folgende Zeit, in der Sabine mit Sascha trainiert, um ihn an den Sattel zu gewöhnen. Denn sie muß zusehen und warten.

Sabine hingegen ist sehr konzentriert und beobachtet den neuen Bewohner genau. Sein Kotverhalten gefällt ihr gar nicht. Sascha ist das einzige Pferd, das noch nie auf der Koppel gekotet hat. Egal ob bei Training oder Freilauf, er hinterlässt keine üblichen Spuren.

Manchmal jedoch galoppiert er abrupt los und ist so schnell verschwunden, dass Sabine nicht hinterherkommt. Dabei zieht es ihn immer in die gleiche Richtung. Etwas später taucht er wieder auf und absolviert weiter sein Training, als wäre nichts gewesen. Die Besucher erfreuen sich jedes Mal an diesem scheinbar sturen Gaul, der immer seinen eigenen Kopf durchsetzen will. Sie lachen und applaudieren sogar, wenn er wieder einmal das Weite sucht, rufen ihn Jolly Jumper, sehr zum Unmut von Emilia. Die Kleine träumt bereits davon, ihn ganz alleine einzureiten, wenn er sich an den Sattel gewöhnt hat. Im Laufe der Zeit wird Sascha zu einer Art Attraktion auf dem Reiterhof, der viele Besucher anzieht.

Irgendwann ist Sabine so irritiert von Saschas wiederkehrenden Tapetenwechseln, die sie in dieser Ausprägung noch nie erlebt hat, dass sie den Weg geht, um zu sehen, wohin der Hengst entflieht. Sie folgt den Spuren, bis sie im hintersten Bereich der Trainingskoppel auf eine Gruppe von fünf Trauerweiden stößt, die eng beisammenstehen. Sie stehen so nahe beisammen und hängen ihre Äste so tief, dass ein Pferd darin kaum zu sehen wäre. Schon von Weitem kann sie riechen, dieser Ort ist der richtige. Das genügt ihr, weiter möchte sie nicht gehen. Sabine konsultiert den Veterinär im nächstgrößeren Ort und der hat eine Vermutung. Am nächsten Tag inspiziert er den Ort, den Sabine vorerst gemieden hat, und kann seine Vermutung bestätigen.

»Frau Hauser, das Verhalten des Tieres ist äußerst verständlich, mich beeindruckt sogar, wie zielgerichtet es zur Selbsthilfe neigt. Wann haben Sie das letzte Mal eine Stuhlprobe untersuchen lassen?«

»Ich, ähm, ich denke, das war … vor drei Monaten? Als er zu uns kam.«

»Aha, da haben wirs. Ich habe im Bereich der Trauerweiden und drumherum jede Menge Überreste von Löwenzahn gefunden, das meiste fast gänzlich aufgefressen. Ihr Pferd leidet an Verstopfung und verschafft sich durch das Kraut Abhilfe. Ich erstelle Ihnen eine Liste, wie sie das Futter zukünftig zusammenstellen sollten, damit das nicht wieder vorkommt.«

»Oh, wie unangenehm, vielen Dank Herr Doktor. Ich werde ab sofort regelmäßig Stuhlproben von allen Pferden untersuchen lassen.«

Einige Zeit später wurden die Besucher auf dem Reiterhof Blumenwiese merklich weniger, die Attraktion war auf einmal langweilig geworden. Sie galoppierte nicht mehr plötzlich davon, sondern wirkte ausgeglichen, fidel und merklich auf ihr Training konzentriert. Sabine jedoch waren die Besucherzahlen ausnahmsweise egal, sie freute sich für Sascha und die Kinder ebenso. Sascha war mittlerweile so gut trainiert und hatte sich zudem als äußerst geduldig erwiesen, dass er schnell der neue Star für die Kleinen auf dem Hof geworden war.

Und der Bereich rund um die Trauerweiden, nun, Sabine und Emilia haben dort großflächig den Inhalt einiger Packungen Löwenzahnsamen verstreut. Man weiß ja nie.

Emilia hat sogar noch etliche Packungen mehr heimlich über dem ganzen Areal geleert. Hüpfend und singend, damit es so aussieht, als würde sie spielen. Pupu muss doch jeder.

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