September 2020. Eine Geschichte über den Lauf der Zeit. Fast Märchenhaft.
„Weißt du mein Junge, mein Großvater Wilhelm hat mir einst diese Geschichte erzählt und ob du es glaubst oder nicht, sie ist wahr. Zumindest möchte ich das glauben, denn überprüfen kann ich es nicht. Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Es gibt eine uralte Sage, die erzählt, dass am Ende des Regenbogens ein Topf voller Gold wartet. Ein unermesslicher Reichtum, sagt man, und bewacht von einem Kobold.
Mein Großvater Wilhelm bekam diese Geschichte von seinem Großvater Ludwig erzählt und entschied kurz darauf, loszuziehen, um diesen Topf mit Gold zu holen. Vielleicht fragst du dich, warum sollte er so etwas tun wollen? Nun, es war seine Großmutter Elsbeth, die zu der Zeit krank war.
In ärmlichen Verhältnissen lebend hatten sie kein Geld für Medizin und 1913 gab es noch keine Krankenversicherung für jeden in der Schweiz, so wie heute. Also zog Wilhelm damals los mit seinen 13 Jahren, mit einem Stock und seinem Bündel und wanderte immer geradeaus in Richtung des Regenbogens, der an jenem Tag den Himmel schmückte. Er wanderte und wanderte, bis die Dämmerung einbrach. Weißt du, er war zu der Zeit irgendwo im Nirgendwo und nirgends gab es Straßenlaternen. So legte er sich auf eine Wiese nahe einem Wäldchen und verbrachte dort die Nacht. Am nächsten Morgen machte er sich auf und ging schnurstracks weiter in die gleiche Richtung. Natürlich war der Regenbogen längst verschwunden, doch mein Großvater behielt die Richtung fest im Blick, wild entschlossen, diesen Topf zu finden.
So vergingen die Tage und er kam in ein kleines Dorf. Dort fragte der Schuster, ob er ihm helfen könne, er suche Arbeiter und mein Großvater war von kräftiger Statur. Er würde ihn sogar mit ein paar Mark dafür entlohnen.Doch mein Großvater lehnte ab, er hatte keine Zeit, immerhin brauchte Großmutter Medizin.
So ging er weiter und verließ den Ort. Er lief und lief und lief und die Tage vergingen und die Wochen verstrichen. Aus den Wochen wurden Monate und Monate. Er lief immer weiter, getrieben von dem Gedanken, endlich diesen Topf zu finden, und merkte gar nicht, wie die Zeit verging.
Eines Tages sah er am Horizont wieder den Regenbogen an genau der gleichen Stelle wie zuvor. Hoch motiviert lief er noch schneller in die Richtung.Als jedoch die Dämmerung einbrach, kam er in ein kleines Dorf und hörte schon von Weitem die jämmerlichen Schreie und das Wehgeklage.
Als er sich umsah, erkannte er, dass das Dorf in Wahrheit ein eilig errichtetes Lazarett war, bestehend aus notdürftig errichteten Zelten, gebaut mit Planen, Lumpen und allem, was man auf die Schnelle hatte finden können. Einige der Verwundeten lagen sogar im freien, einfach im Dreck, weil in den Zelten und hastig erbauten Unterständen einfach kein Platz mehr war. Mein Großvater erkannte sofort die Uniformen und ihm war klar, ohne jeden Zweifel: Es war Krieg.
Nun war er mitten im größten Dilemma seines Lebens gelandet und musste entscheiden, wem er helfen wollte. Doch für ihn gab es keine Zweifel, er wusste, was er zu tun hatte. Also blieb er und half, die Verwundeten zu versorgen.
Die Tage vergingen und mit ihnen die Wochen. Es folgten Monate und darauf Jahre. Irgendwann war der Krieg vorbei und aus meinem Großvater ein Mann geworden. Er verstand nun, wie töricht es gewesen war zu versuchen, den Topf mit Gold zu finden. Und er fürchtete, ahnte fast, seine Großmutter müsste längst verstorben sein.
So entschied er, nach Hause zurückzukehren zusammen mit den Münzen, die ihm die dankbaren Soldaten im Laufe der Jahre zugesteckt hatten. Doch aus der Eisenbahn gestiegen und zu Hause angekommen, brach ihm fast das Herz, als er erfuhr, dass sich nicht nur Großmutter, sondern auch Großvater gemeinsam einen Platz auf ihrer letzten Ruhestätte teilten. Oh, ich sage dir, es hat ihn fast zerrissen.
Doch irgendwann später beschloss er, die Reise sollte nicht umsonst gewesen sein. Er holte den Schulabschluss nach, bezahlte mit den Münzen sein Medizinstudium, heiratete und gründete eine Familie. Und heute sitzen wir hier an diesem wunderschön warmen Herbstabend und ich erzähle meinem Enkel diese Geschichte, die mir einst mein Großvater erzählt hat. Und weißt du, warum ich das tue?“
Richard nickt und trinkt einen Schluck vom Tee, dessen feiner Duft ihn Zuhause spüren lässt. Er blickt kurz zu Boden auf die alten verwitterten Holzdielen der Veranda, die ihm so vertraut sind wie die Muttermale seiner Haut. In diesem Haus ist er aufgewachsen, hat gelacht, geweint, gegessen und geschlafen. Sein nachdenklicher Blick streift über die verträumte Liebelei aus rot und orange am fernen Abendhimmel, während ihm leichter Wind zärtlich übers Gesicht streichelt und denkt über die Worte seines Großvaters nach. Der Schatz am Ende des Regenbogens.
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„Weißt du mein Junge, mein Großvater hat mir einst diese Geschichte erzählt und ob du es glaubst oder nicht, sie ist wahr. Zumindest möchte ich das glauben, denn überprüfen kann ich es nicht …“
Als Richard die Geschichte zu Ende erzählt hat, blickt seine 11-jährige Enkelin zu ihm mit zusammengekniffenen Augen und behauptet „Ach Opa, Kobolde gibt es gar nicht.“ Dann steht sie auf und spielt mit ihrem lebensecht wirkendem Roboterhund.
Schmunzelnd zieht er seine Augenbrauen nach oben und blickt in die verspielte Träumelei aus rot und orange am fernen Abendhimmel, während ihm ein Hauch sanften Windes ums Gesicht weht.
Und er denkt: Kobolde gibt es vielleicht nicht, den Schatz am Ende des Regenbogens jedoch schon, denn den hat Wilhelm gefunden: Annemarie, Krankenschwester im Lazarett, mit der er zurückkehrte. Meine Ururgroßmutter.
Langsam schließt er die Augen, stellt sich den Geschmack des Tees in seinem Mund vor und denkt zurück an die Frage seines Großvaters damals: „Weißt du, warum ich dir das erzähle?“
Sein Blick wandert zum einst prächtigen, doch heute arg verwitterten Schild, dass am dezent restaurierten Haus auf der anderen Straßenseite hängt, mit den von Wilhelm kunstvoll eingebrannten Worten: Elsbeth Schell Armenhaus.
Ja, mein Ururgroßvater Wilhelm zog aus, einen Schatz zu finden, in der Hoffnung, seiner Großmutter helfen zu können. Und er hat ihn auch gefunden, doch war er anders als gedacht.
Er baute Elsbeth zu Ehren dieses Armenhaus. Und wie mein Großvater übernahm ich irgendwann die Leitung. Und wie er damals sitze ich heute hier und beobachte meine Enkelin, wie sie vergnügt herumtollt. Und wer weiß, vielleicht irgendwann wird sie selbst einmal hier sitzen und ihre Enkel beobachten. Ich hatte ein langes und schönes Leben inmitten einer wundervollen Familie.
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„Hey Lisa, was hast du am Wochenende gemacht?“, freut sich Lena, als sie ihre Freundin auf dem Schulweg entdeckt.
„Ich habe meinen Opa besucht, der ist in so einem Heim für alte Leute“, erklärt Lisa.
„Mein Opa wohnt bei uns zu Hause, er erzählt mir manchmal Geschichten“, entgegnet Lena. Nach kurzem Nachdenken sagt sie „Er hat mir mal eine Geschichte von einem Regenbogen erzählt, willst du sie hören?“
Mittlerweile sind die beiden im Schulgebäude angekommen und Lena erzählt die Geschichte. Als sie damit fertig ist, runzelt Lisa die Stirn und mosert „Wer glaubt denn an den Topf voll Gold? Das ist doch für Kinder.“
Frau Sieber, die Deutschlehrerin jedoch hatte die Geschichte mitbekommen und vermutet „Vielleicht geht es einfach darum sich selbst treu zu bleiben und niemals aufzugeben?“
Lisa rümpft ein wenig ihre Nase und antwortet etwas unentschlossen „Vielleicht“, während sie den Gang entlang schlurft.
Unterdessen sieht Lena ihr hinterher und erinnert sich an die Worte ihres Opas: „Weißt du, warum ich dir das erzähle?“
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„Weißt du mein Junge, mein Opa hat mir einst diese Geschichte erzählt und ob du es glaubst oder nicht, sie ist wahr …“
Als Lena die Geschichte zu Ende erzählt hat, wundert sich ihr 12-jähriger Enkel „Warum ist er nicht mit dem Lufttaxi geflogen?“ Dann steht er auf und geht spielen.
Mit einem Schmunzeln sieht Lena ihm hinterher, dann wandert ihr Blick in den langsam einsetzenden Sonnenuntergang, der eine verträumte Spielerei aus rot und orange in die Ferne zeichnet. Ein zahmes Windlein streichelt ihr Gesicht und sie denkt: Ja, mein Urahn Wilhelm zog aus, einen Schatz zu finden, in der Hoffnung, seiner Oma helfen zu können. Und er hat ihn auch gefunden, doch war er anders als gedacht. Er baute Elsbeth zu Ehren dieses Armenhaus, aus dem im Laufe der Zeit eine Seniorenresidenz wurde. Und wie mein Opa übernahm ich irgendwann die Leitung. Und wie er damals sitze ich heute hier und beobachte meinen Enkel, wie er vergnügt herumtollt. Und wer weiß, vielleicht irgendwann wird er selbst einmal hier sitzen und seine Enkel beobachten. Ich hatte ein langes und schönes Leben inmitten einer wundervollen Familie.
„Weißt du, warum ich dir das erzähle?“, fragte mich mein Opa Richard einst. Dann betrachtete er mich liebevoll und erklärte „Damit du nie vergisst, was im Leben wirklich zählt.“
Denn ganz am Ende brachte Wilhelm noch etwas anderes von seiner Reise mit: Die Erkenntnis, dass die Zeit auf Erden ein Geschenk ist und begrenzt. Und aus dieser Erkenntnis erwuchs tiefe Liebe, die seit Generationen unsere Familie prägt und die Arbeit mit den Senioren.
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„Elsbeth Schell Residenzen. Für einen sorgenfreien Lebensabend.“
Mit zufriedenem Blick tippt Daniela an ihre Schläfe, um das Modul zu deaktivieren, welches ihr diesen virtuellen Werbefilm aus dem Internet ins Gedächtnis gezeichnet hat, wirft einen Blick zu ihrer bereits hochbetagten Mutter und ermutigt „Mutti, das klingt doch großartig. Dieses Haus hat Tradition, die wissen, was sie tun. Die kümmern sich bestimmt gut um dich.“
Dann doppeltippt sie an ihre Schläfe und sagt „Anruf: Elsbeth Schell Residenzen.“