Eine sinnliche Kurzgeschichte in bedrohlichem Kontext zum Thema „Das unerwartete Blatt im Aktenordner.“
„Mama, was ist Wachsamkeit?“
Susanne blickt irritiert auf. Die Frage ihrer Tochter hat sie so nicht erwartet. Nicht jetzt, da sie gerade mit ihrer Puppe spielt und überhaupt: nicht von einer 4-Jährigen.
Sie sieht die Kleine stirnrunzelnd an und überlegt einen Moment, bevor sie antwortet. Den Aktenordner mit Bildern und Berichten zur Clankriminalität in Deutschland, den sie von ihrer neuen Arbeitsstelle in der Großstadt zum Studieren mit nach Hause genommen hat, legt sie sachte auf den Tisch. Sie steht auf und setzt sich neben das Mädchen auf den neuen Teppichboden, der kurz vor ihrem Zuzug aus dem Ländlichen verlegt wurde. Emilia sieht sie mit einem Blick an, der auch fragen könnte: „Habe ich was falsch gemacht?“
Neugierig neigt Susanne ihren Kopf etwas nach rechts und studiert das Gesicht vor sich. Kleine braune Augen sehen sie unsicher fragend an, während die Haut auf der Stirn versucht, unter den Kragen am Nacken zu flüchten.
„Woher hast du das?“, fragt Susanne und legt ihre Hände sanft auf Emilias Schultern. Die Kleine senkt den Kopf und drückt an der Puppe herum. Einen Moment später hebt sie den Kopf und sagt: „Lea hat gesagt, ihre Mama redet dauernd davon. Sie sagt, Wachsamkeit ist der Schlüssel zu einem schönen Leben.“
„Das hat Leas Mama gesagt?“ Susanne runzelt die Stirn und fragt sich, in welcher Gegend die Familie wohnt. Die Kleine nickt unsicher und sieht wieder zu ihrer Puppe. „Was hat sie denn noch gesagt? Magst du mir das sagen?“
Emilia verzieht kurz die Mundwinkel und nickt. „Sie sagt, wer wachsam ist, der spürt das Leben intensiver und hat weniger Angst.“ Mit fragenden Augen sieht sie zu ihrer Mutter, die im Kopf verschiedene Sekten und Gruppierungen durchgeht. Vor 3 Wochen erst hat sie einen Artikel über die in Deutschland operierende Guerilla Nation geschrieben. Doch auf die Schnelle will ihr Gehirn keine Zuordnung machen. Wachsamkeit ist grundsätzlich nicht verkehrt und auch nicht verboten. Aber was hat das mit einem schönen Leben zu tun? Wachsam sein ist auch anstrengend auf Dauer, kann erschöpfen und sogar Ängste verstärken. Irgendwas kommt ihr komisch vor. Deswegen fragt sie nun etwas konkreter. „Süße, was hat Lea noch gesagt? Was sagt ihre Mama noch?“ Mit dem Kopf geht sie nun näher an das Mädchen und versucht, sie mutmachend anzusehen.
Emilia sieht wieder nach unten zur Puppe und denkt kurz nach. Einen Moment später hebt sie den Kopf, pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagt: „Na, sie sagt, sie geht in den Wald spazieren oder sie setzt sich zu Hause auf ein Kissen. Dann macht sie die Augen zu und träumt oder so. Manchmal hat sie verschiedene Fläschchen mit Düften, an denen sie riecht. Manchmal ist sie im Garten und beobachtet die Bienen oder Käfer.“
Jetzt endlich versteht Susanne. Der Stein, der ihr vom Herz rollt, lässt sie spontan nach dem Kind greifen und es fest in ihre Arme schließen.
„Mama, was ist los mit dir?“ Fast schon empört klingen ihre Worte, doch Susanne muss von Herzen lachen und dreht die Kleine etwas. Bauch an Rücken sitzen beide da, Susannes Hände umarmen das Kind von hinten und sie schmunzelt. „Süße, was du meinst, ist Achtsamkeit. Das ist was anderes als Wachsamkeit. Wachsam bedeutet, dass man sich ständig umsieht und immer überall vorsichtig ist.“
„Und was ist Achtsamkeit?“ Emilia spricht die Worte etwas schmollend, doch zwei krabbelnde Hände an ihrem Bauch lassen sie sofort ebenfalls lachen.
„Achtsamkeit heißt, dass du immer bei dem bist, was du tust. Wenn du liest, dann konzentrierst du dich auf den Text. Wenn du …“
„Ich kann gar nicht lesen“, motzt das Mädchen.
Susanne lacht und drückt ihr Kind an sich. „Ich weiß, mein Schatz, aber bald wirst du es können.“ Einen Moment schweigen die beiden. Dann spricht Susanne leise weiter. „Spürst du das?“
„Was spüren?“
„Spürst du meine Hände auf deinem Bauch?“
Das Mädchen nickt.
„Spürst du die Wärme, die von ihnen ausgeht?“
Wieder nickt das Mädchen.
„Merkst du, wie ich atme?“
Emilia wartet einen Moment und nickt erneut.
„Spürst du meine Stirn an deinem Kopf?“
„Ja.“
„Das ist Achtsamkeit, Süße. Genau hier und jetzt, du und ich. Wir beide zusammen, wir sind achtsam, weil wir an nichts anderes denken. Wir leben genau hier und jetzt.“
Einige Zeit schweigen die beiden, sitzen eng umschlungen auf dem weichen Teppichboden. Irgendwann flüstert Emilia: „Achtsamkeit ist voll schön.“
***
Tags darauf in der Berliner Redaktion. Susanne hat ein Meeting und sitzt im Konferenzraum. Gemeinsam mit den Redakteuren und einigen Co-Journalisten wollen sie das weitere Vorgehen zur Recherche im Fall der gestohlenen Goldmünze ‚Big Maple Leaf‘ besprechen. Als sie den Aktenordner aufschlägt, verlässt jede Farbe ihr Gesicht. Ein Din-A4 Blatt prangt vor ihr. Darauf stehen Worte in unterschiedlichen Farben und mit verschiedener Typographie. Offensichtlich aus einer Zeitung ausgeschnitten.
Wenn du dein Kind Leben wieder sehen willst, gehe jetzt zuhause. Kein Polizei!
Mit offenem Mund starrt sie auf das Blatt, spürt, wie sich der Boden zu öffnen scheint. Wie er sie zu verschlingen droht und wie ihr Herz für einen Moment das Schlagen zu verweigern scheint. Mit einem Ruck reißt sie das Blatt heraus, steht auf, schwer atmend, schaut zum Chefredakteur und sagt: „Ich muss weg!“ Eilig verlässt sie den Raum, rennt zum Fahrstuhl und drückt den Knopf. Ihre Beine fühlen sich an, als versänke sie in Treibsand. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnen sich die Türen zur Tiefgarage und Susanne hetzt ängstlich und zitternd zu ihrem Wagen.
Auf der Fahrt nach Hause sprudeln furchtbare Bilder durch ihren Kopf, was alles passieren könnte, wenn sie zu spät käme. Dazwischen immer wieder Stoßgebete in Richtung Himmel, dass Emilia noch am Leben wäre und es ihr gut ginge. Nach mehreren Beinaheunfällen und etwa vier verbrauchten Schutzengeln kommt sie am Haus an. Sie spürt ihre Kleidung am Körper kleben, als sie aussteigt, doch sie zögert keinen Moment. Langsam nähert sie sich dem Haus. Alles sieht aus wie immer.
„Mama?“ Emilia dreht sich um und betrachtet einen Moment ihre Mutter. Mit einem lauten Schrei wacht Susanne auf. „Schatz, Schatz, geht es dir gut? Komm her, komm her zu mir!“ Sie drückt ihre Tochter fest an sich und spürt noch immer die Angst, die ihre Kehle zuschnürt. Ein paarmal atmet sie tief durch und versucht, sich zu orientieren und zu beruhigen.
„Hast du schlecht geträumt?“
„Ja, mein Schatz, es war ein böser Traum, aber jetzt ist alles gut.“ Noch einige Momente drückt Susanne ihre Tochter an sich, bis sie merkt, dass sie wieder ruhig ist.
„Du träumst immer wieder schlimm, oder?“
„Warum sagst du das?“
„Ich hab dich letzte Nacht gehört. Du hast geschrien.“
Susanne senkt den Kopf. „Ja, ich schlafe zur Zeit nicht gut, weißt du. Die Arbeit ist sehr anstrengend.“
„Ist Träumen auch Achtsamkeit?“, fragt Emilia und blickt etwas skeptisch.
„Nein, Schatz, Träume sind nicht echt. Es sind Dinge, die wir gesehen oder erlebt haben und die auf diese Weise verarbeitet werden. Träume können dir nichts tun, ok? Aber sie können Wegweiser sein.“ Noch einmal drückt sie ihre Tochter an sich und das Mädchen nickt.
Etwas später steht Susanne am Fenster und denkt über die Frage nach, die Emilia ihr gestellt hat: Ist Träumen auch Achtsamkeit? Sie denkt über ihre Antwort nach. Sie denkt an ihren Traum vom Arbeiten bei einer großen Tageszeitung, den sie sich erfüllt hat, und daran, was für sie wirklich wichtig ist. Die Härchen auf ihren Armen stellen sich auf, als sie an die Recherche zum Artikel über die Guerilla Nation denkt, und das mulmige Gefühl, das sie spürte, als er fertig war.
Ihr Blick ist ernst, während sie die verstörenden Bilder und Berichte zur Clankriminalität in Gedanken Revue passieren lässt. Einbrüche, Drogen, Kreidestriche auf dem Asphalt und Blutspuren daneben. Und immer wieder schieben sich Bilder von goldgelben Roggenfeldern vor ihr geistiges Auge, die sich sanft im Wind bewegen. Emilia, die auf ihrem Fahrrad lachend über Feldwege fährt und nach ihr ruft. Lange steht Susanne dort und nach einiger Zeit beschließt sie, den Fall abzugeben.
Ein paar Wochen später zieht die Familie zurück ins Brandenburger Land, wo Susanne wieder bei einer Lokalzeitung arbeitet.
Regt sehr zum Nachdenken an. Wie gut du den Unterschied zwischen Achtsamheit und Wachsamkeit erklärst.
Vielen Dank, Marion.